Im Licht der Sonne: Roman (German Edition)
umzudrehen.
Sie leuchtete regelrecht im Dunkeln. Eine schwache Aura
aus Licht umgab ihren Körper, ihr Gesicht, die langen lockigen Haare. Ihre Augen waren so grün wie die einer Katze gegen die nächtliche Dunkelheit. Und sie beobachteten ihn, genauso ruhig und unverwandt, genauso geduldig.
»Ripley.« Man konnte ihm für gewöhnlich nicht so leicht einen Schreck einjagen, aber sie hatte es geschafft. »Ich wusste ja nicht, dass noch jemand hier draußen ist.«
Er ging langsam auf sie zu. Ein eisiger Lufthauch strich über ihn hinweg. Der Sand verlagerte sich unter seinen Füßen. Er sah eine einzelne Träne, so hell und glitzernd wie ein Diamant, ihre Wange hinunterkullern. Bevor sie blitzschnell verschwand.
3
Three Sisters Island war still und weiß und perfekt – wie eine der Schneekugeln auf dem Regal bei Island Treasures, dachte Ripley. Der Schneesturm, der während der Nacht über die Insel gezogen war, hatte den Strand, die Grasflächen, die Straßen in eine dicke weiche Decke gehüllt. Mit flauschigweißen Hermelinpelzen drapierte Bäume standen so still und reglos wie auf einem Gemälde, und die Luft war vollkommen unbewegt.
Ripley hasste es, die unberührte weiße Pracht zu beschädigen.
In genau diesem Moment telefonierte Zack bereits mit Dick Stubens, um ihm zu sagen, dass er seinen Schneepflug in Gang setzen sollte. Bald würde sich die Welt wieder bewegen. Aber vorläufig war sie noch still und ruhig. Unwiderstehlich.
Hoher Schnee gehörte zu den wenigen Dingen, die Ripley von ihrem gewohnten Morgenlauf am Strand abhalten
konnten. Sie warf sich ihre Sporttasche über die Schulter, schnupperte ein letztes Mal den verlockenden Duft dessen, was ihre Schwägerin gerade in der Küche backte, und verließ das Haus.
Vorläufig, für die Dauer ihres Fußmarsches zum Hotel und zu seinem Fitnessstudio, gehörte die Insel nur ihr allein. Aus den Schornsteinen der Häuser stieg Rauch auf. Hinter den Küchenfenstern schimmerte Licht. Sie malte sich aus, wie dort Haferbrei angerührt wurde und Frühstücksspeck in der Pfanne brutzelte. Und wie die Kinder im Inneren jener warmen, gemütlichen Häuser Freudentänze aufführten. Keine Schule heute. Heute war ein Tag für Schneeballschlachten und Schneemänner, ein Tag für Schlittenfahrten und Becher mit heißem Kakao am Küchentisch.
Früher einmal war ihr Leben auch so einfach und unkompliziert gewesen.
Sie trottete in Richtung Dorf, hinterließ eine tiefe Furche im Schnee. Der Himmel war von einem stumpfen, abwartenden Weiß, als ob er überlegte, ob er nicht noch ein paar Zentimeter mehr Schnee ausschütteln sollte, nur zur Sicherheit. Wie auch immer, dachte sie, ich werde meine Stunde im Studio trainieren und dann wieder nach Hause gehen, um Zack zu helfen, den Streifenwagen und Nells Auto freizuschaufeln.
Sie hätte vielleicht lieber jenen Schneemann gebaut, aber das Leben war leider nicht mehr so einfach, wie es früher mal gewesen war.
Als sie ins Dorf kam, blickte sie wieder auf den Boden und runzelte irritiert die Stirn. Hier war der Schnee nicht mehr so unberührt, wie sie erwartet hatte, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war schon jemand anderer früh am Morgen draußen gewesen, und dieser Jemand hatte einen schmalen Trampelpfad hinterlassen.
Es ärgerte sie. Es war eine Tradition, fast schon ein Ritual,
dass sie die Erste war, die die jungfräuliche Schneedecke auf diesem Teil der Insel durchbrach. Jetzt hatte ihr jemand diese Prozedur verdorben und die Oberfläche ihrer Seifenblase der Zufriedenheit durchstochen.
Sie versetzte dem Schnee einen Fußtritt und marschierte missmutig weiter.
Die Fußspur führte, genau wie ihre, zu dem neugotischen Steinhotel, The Magic Inn.
Irgendein Tourist vom Festland, entschied sie, der früh aus seinem Hotelzimmer gekommen war, um ein echtes Neuengland-Dorf im Schnee zu sehen. Man kann ihm wohl kaum einen Vorwurf daraus machen, dachte sie, aber er hätte wenigstens noch eine Stunde warten können. Sie stapfte die wenigen Treppenstufen zum Hoteleingang hinauf, trampelte den Schnee von ihren Stiefeln und ging hinein.
Sie nickte dem Angestellten an der Rezeption zu, hievte ihre Sporttasche hoch und joggte die Treppe von der Eingangshalle zum ersten Stock hinauf. Sie hatte eine schon seit langer Zeit bestehende Abmachung mit dem Hotel, dass sie keinen monatlichen Pauschalbeitrag für die Benutzung des Fitnesscenters entrichtete, sondern nur zahlte, wenn sie auch wirklich dort gewesen war. Sie zog es
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