Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
schmiedeeisernen Verandatisch. Ihre Angst hatte sich gelegt, nachdem John von seinem erfolglosen Versuch, Clifton Hebert zu finden, zurückgekehrt war. Eine gewisse Unruhe aber war geblieben. Sie berührte seine Hand auf dem Tisch, eine unwillkürliche Geste, die sie zusammenzucken ließ. Seit wann war sie eine Frau, die sich zu so intimen Berührungen hinreißen ließ? Diese Frage ging ihr durch den Kopf, seitdem sie John kennengelernt hatte – fast so, als wäre sie durch seine Bekanntschaft wie ein für alle Ewigkeit gefangenes Insekt aus ihrem Bernsteingefängnis befreit worden. Nachts wurde sie von Träumen geplagt, Küssen, Augenblicken der Leidenschaft, dem Weinen eines Babys – Dinge, die sie fest in sich verschlossen hatte, seitdem sie und Raymond Schluss gemacht hatten.
»Chula, alles in Ordnung? Du bist ungewöhnlich still.« John nippte an dem von Maizy vorbereiteten Eistee.
»Praytor hat heute Nachmittag nach dir gesucht. Hat der Sheriff mit dir gesprochen?«
John war überrascht. »Mit mir? Wieso?«
»Jemand muss ihm erzählt haben, dass du ein Buch über den loup-garou schreibst. Er hält dich für einen Experten. Nach allem, was ich gehört habe, scheint er ziemlich verzweifelt zu sein.«
John führte ihre Hand an die Lippen und küsste sie. »Wenn es bedeutet, dass ich mehr Zeit mit dir in New Iberia verbringen darf, dann werde ich noch zum Experten. Chula, ich hege starke Gefühle für dich.«
Einen Augenblick lang ließ sie ihre Hand in seiner, dann zog sie sie weg. Was er ihr offenbarte, war so überwältigend, dass sie sich nicht darauf einlassen konnte. Noch nicht. »Dieses Mädchen, Peat Moss Baxter, wird immer noch vermisst. Es ist jetzt fast vierundzwanzig Stunden her.« Sie sah zu den Eichen, die den Garten so wunderbar machten. »Ich hasse es, wenn die Nacht hereinbricht. Die Leute haben Angst. Und sie haben ihren Verstand ausgeschaltet.«
Er stand auf und bot ihr seine Hand an.
Sie legte ihre Hand auf seine und spürte wieder dieses elektrisierende Gefühl, das so angenehm und so gefährlich war. »Suchen wir Joe und bringen es hinter uns. Gerüchten in der Stadt zufolge hat sich Raymond aus dem Staub gemacht. Joe ist ziemlich nervös. Ich war heute bei Madame, aber sie war nicht da, und auch Adele war fort. Ich mach mir Sorgen, John.«
»Kommt der Sheriff denn nicht allein zurecht, auch wenn Raymond nicht da ist?«
Chula musste lächeln. »Joe ist ein abergläubischer Narr. Er meint es gut, aber an Raymond bleibt die ganze Arbeit hängen.«
Als sie Schritte hörten, drehten sie sich um. Maizy kam augenrollend auf sie zu. »Miss Chula, Mrs. LaRoche ist hier. Sie wartet im Salon. Ich hab ihr Brandy serviert, damit sie sich beruhigt. Sie ist sehr aufgewühlt. Ich dachte, ich ruf den Doktor, aber davon hat sie nichts hören wollen. Sie sagt, sie will mit Ihnen reden. Sofort.«
Chula verschwendete keine Zeit damit, sich Gedanken zu machen, warum Jolene LaRoche bei ihr aufgetaucht war. Sie kannte die Frau von der Kirche, aber sie waren nicht unbedingt befreundet. Chula eilte ins Haus und vertraute darauf, dass John ihr folgen würde. Sie fand Jolene auf dem Sofa vor, ihr Haar war zerzaust, das Kleid schweißgetränkt und voller Flecken. »Jolene, was ist denn passiert?« Sie ging vor ihr in die Hocke und ergriff die schlaffe Hand der Frau.
Langsam schien sie zu sich zu kommen. »Ich … ich war draußen bei Marguerite Bastion, um mit ihr zu reden.« Ihr wirrer Blick fiel auf John in der Tür, den sie aber gar nicht wahrzunehmen schien. »Vater Finley hat die Jungen.« Sie stockte. »Marguerites Jungen. Ich war bei ihr. Ich …«
Chula nahm das von Maizy eingeschenkte Glas Brandy und hielt es Jolene an die Lippen. Vorsichtig nippte sie daran. »Sie müssen mir erzählen, was geschehen ist. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«
Jolene schloss die Augen und atmete tief durch. »Ich wusste doch nicht, wo ich sonst hin sollte. Raymond ist nicht in der Stadt, und der Sheriff ist auf der Suche nach dem Mädchen. Pinkney hat mir gesagt, ich soll zu Ihnen kommen. Sie hätten einen Wagen und könnten vielleicht den Deputy finden.«
Chula tätschelte Jolenes Arm. »Ich werde tun, was ich kann, aber erst müssen Sie mir erzählen, was geschehen ist. Ist mit Marguerite und den Jungen alles in Ordnung?«
Jolene schüttelte den Kopf. »Die Jungen haben die Vogelscheuche an Vater Finleys Baum gehängt. Marguerite hat sie gebracht. Sie wollte sie in eine Besserungsanstalt schicken. Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher