Im Netz des Verbrechens
ihren nackten Fußsohlen anfühlte. Sie hatte die Gartenpforte fast erreicht, als die Eingangstür aufgerissen wurde und Nick …
… Danny. Verdammt, so heißt er, Danny. Deinen Nick hatte es nie gegeben …
… als er nach draußen stürmte. »Juna! Nein!«
Sie machte ein paar Schritte rückwärts und blieb stehen, das Messer erhoben. Sollte er doch kommen.
Sollte er doch kommen.
Sie würde nicht zögern.
Nick blieb stehen und sah sie an. »Bitte, Juna, sei doch vernünftig.«
Sie fuhr herum und rannte davon.
21
Sie rannte, bis sie nicht mehr konnte, drehte sich immer wieder um, doch niemand folgte ihr. Die Gegend mit den leeren, kleinen Straßen und stillen Häusern umgab sie mit gemütlicher Gelassenheit. Sie musste in eine Glasscherbe getreten sein, denn ihre Sohle brannte und schmerzte beim Auftreten. Aber sie musste weiter. Er würde nach ihr suchen. Und er durfte sie auf keinen Fall finden.
Juna prüfte die Schneide des Messers an einer Thuja-Hecke, die ihre Triebe durch einen filigranen grünen Metallzaun streckte. Die Klinge ging fast widerstandslos durch einen strohhalmdicken Zweig. Wunderbar. Jetzt fühlte sie sich bei weitem weniger hilflos.
Sie trennte mit dem Messer ein Stück von ihrem Saum ab, wickelte die Schneide ein und steckte sie in den Bund des Rockes. Mit der Bluse kaschierte sie die Waffe. Wenn sie in Bewegung blieb, fiel es ihr leichter nachzudenken. Außerdem war ihr Vorsprung nicht groß genug. Nick könnte sie jederzeit einholen.
Beim Gedanken an ihn prüfte sie noch einmal die Umgebung. Nein, keiner zu sehen. Sie würde es schaffen.
Der einzige Mensch, dem sie jetzt noch vertrauen konnte, war ihre Oma. Und wenn ihre Oma meinte, das Frettchen könnte sie zu ihrem Vater bringen, dann würde sie dem Frettchen folgen. Sie musste zurück zum Club und versuchen, den Mann abzupassen. Auch wenn er der letzte Mensch war, dem sie gegenübertreten wollte.
Falsch.
Vor dem letzten Menschen lief sie gerade fort. Verglichen mit ihm war das Frettchen gar keine so üble Wahl.
Fast hätte sie aufgelacht.
Ein Weilchen irrte sie durch die Gegend. Die Einfamilienhäuser standen brav und ordentlich nebeneinander und sahen wie ein Musterbeispiel der westlichen Vorstadtidylle aus. Das, was sie früher bestenfalls aus dem Fernsehen kannte, breitete sich vor ihr in all seiner Pracht aus. Es wirkte so unglaublich irreal. Daheim kannte sie nur ›Dorf‹ oder ›Stadt‹, es gab nichts dazwischen. Ein paar Wohlhabendere kleideten ihre Datschas in Stein und Holz, um ihnen das für ihr Verständnis zu profane Antlitz zu rauben, aber im Grunde blieb alles beim Alten und würde es noch lange bleiben. Auch wenn sich die russische Seele doch ab und zu nach den westlichen Standards sehnte.
Und leider fiel sie hier auf wie eine Vogelscheuche, die jemand barbarisch in den gepflegten Rasen des Vorgartens gestellt hatte. Einige der Normalbürger saßen auf ihren Terrassen, tranken Kaffee und musterten sie wie ein aus dem Zirkus entflohenes Tier.
Es dauerte, bis sie an eine befahrene Straße kam und sich vor der gemächlichen Bürgerlichkeit in Sicherheit gebracht hatte. Und nun? In Russland, mit seinem unregelmäßigen öffentlichen Verkehr, bei dem man am besten Tarotkarten legte, um die Busfahrzeiten herauszubekommen, war es nichts Ungewöhnliches, per Anhalter zu reisen. Nicht kostenlos natürlich, aber manchmal fand sich auch eine gute Seele, die einen ein Stück mitnahm. Wie der Taxifahrer, der sich damals erbarmt hatte und sie zum Club gebracht hatte. Gab es hier mehr von seiner Sorte? Ihr blieb kaum etwas anderes übrig, als es auszuprobieren.
Hoffnungsvoll streckte sie die Hand aus, wartete, aber es passierte nichts. Die Autos rauschten an ihr vorbei, und abgesehen von ein paar neugierigen Blicken erntete sie wenig Aufmerksamkeit. Sie ging ein Stück, versuchte es erneut, und eine kurze Zeit später – wieder. Mit demselben Erfolg.
Na toll.
Sie sah an sich herunter. Gut, ihr barfüßiger Auftritt weckte auch nicht gerade Vertrauen. Sie versuchte, wenigstens ihr Haar zu bändigen und flocht einen Zopf, der nur lose hielt. Ordentlicher sah es nicht unbedingt aus.
Inzwischen hatte sie auch ihre Legende – die ›Leidensgeschichte eines armen russischen Mädchen‹ – perfektioniert, aber es brachte wenig, wenn es keinen gab, dem sie sie vortragen könnte. Bis schließlich doch noch ein Opel bremste. Das Beifahrerfenster glitt herunter und der Fahrer schaute sie so skeptisch an, dass sie sich
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