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Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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untergehenden Sonne bereits über eine Stunde der tintenschwarzen Finsternis einer sternlosen Nacht gewichen war, ließ sich der dreizehnjährige Henry vor Erschöpfung zitternd auf die Knie fallen, um aus einem der mit Wasser gefüllten Eimer zu trinken. Doch er hatte kaum die Kelle an die Lippen gesetzt, als ihn ein erbarmungsloser Tritt in den Rücken wieder auf die Beine springen ließ. »Ihr seid nicht zum Pause machen hier«, fauchte ihn ein vierschrötiger Armbrustschütze mit einer zerschlagenen Visage an. »Mach weiter!« Wimmernd schulterte der Junge den schweren Holzstamm und wuchtete ihn in das eigens dafür ausgehobene Loch. »Halte durch«, flüsterte Roland, der unter dem Vorwand, den angespitzten Pflock in das aufgelockerte Erdreich treiben zu wollen, neben seinen Bruder getreten war, diesem ins Ohr und drückte tröstend die knochige Schulter des Jüngeren. »Wenigstens weißt du jetzt, dass du es bei Robin of Loxley doch nicht so schlecht hast!« Henry nickte schwach, während breite Schweißbäche über seine Wangen liefen. Wie anders er sich dieses Abenteuer vorgestellt hatte! Anstatt des wagemutigen Helden, den er sich ausgemalt hatte, erkannte er in Robin of Loxley nichts weiter als einen der üblichen erbarmungslosen Kämpfer, die sich nur so lange um die Belange der Bevölkerung scherten, wie es ihren eigenen Zielen diente. Anstatt – wie von Henry in verklärten Träumen erdacht – auf ewig in Liebe mit der liebreizenden Lady Marian verbunden zu sein, war sich Loxley keinesfalls zu fein dafür, das Lager mit den billigen Huren zu teilen, die überall dort, wo die Streitmacht des Königs auftauchte, wie Heuschrecken über die Ritter herfielen. »Vielleicht hast du recht«, gab er mit zitternder Stimme zurück. »Aber ich weiß nicht, ob ich das lange durchhalte.« Betont locker stieß Roland im flackernden Licht der Fackeln einen weiteren der zermürbend schweren Stämme in ein Loch und wischte sich die verschwitzten Handflächen an der Cotte ab. »Das schaffst du schon«, ermunterte er den Jüngeren. Auch wenn das erst der Anfang ist!, setzte er in Gedanken hinzu. Während sie weiterschufteten, dachte er über die eigenen Sehnsüchte nach, die in den vergangenen Tagen zerplatzt waren wie Seifenblasen. Zwar hatte er nie zu hoffen gewagt, dass Richard Löwenherz ihn mit brüderlicher Herzlichkeit behandeln würde. Doch die Härte, die der König ihm gegenüber an den Tag legte, war die gleiche, die auch Humphrey zu spüren bekam, wenn er einen Schnitzer beging. Und Humphrey war kein Plantagenet! Humphrey! Bei dem Gedanken an den Sohn des Earls of Pembroke kam Roland die Galle hoch. Er spuckte aus und fuhr sich über die Stirn. Dann biss er die Zähne aufeinander und wuchtete die nächste Palisade an ihren Bestimmungsort. Was für ein Scheiß!, dachte er wütend. Wenn er gewusst hätte, was ihn als Knappe des Königs erwartete, dann wäre er mit Sicherheit in York geblieben!
     
    ****
     
    Als am folgenden Morgen das rot-weiße, mit einer fünfblättrigen Blüte geschmückte Wappen ihres Gemahls hinter der ersten Biegung der Straße verschwand, ließ Catherine of Leicester den lange zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. Der fiebernde, einjährige William, der sein glühendes Gesichtchen an ihrem fest geschnürten Busen verborgen hatte, begann ebenfalls wieder, brüllend zu heulen – beinahe als spüre er die Trauer und Niedergeschlagenheit seiner Mutter. »Schsch!« Liebevoll küsste sie das Haar des kleinen Jungen, während sich ihre Tränen mit den seinen vermischten. Der Staub, den die Hufe der Streitrösser aufwirbelten, verwischte die Umrisse der Reiter und Fußsoldaten und ließ die sich träge wie ein Wurm dahinwindende Armee geisterhaft und unwirklich erscheinen. Hoch über den Köpfen der Krieger ballten sich die in der roten Morgendämmerung noch harmlos flauschig wirkenden Schönwetterwölkchen langsam, aber sicher zu einer Wand zusammen. Und die Schwüle, die bereits schwer in der Luft lag, ließ vermuten, dass sich schon bald ein Frühlingsgewitter entladen würde.
    Mit einem tiefen Seufzer schob Catherine den zweiten Arm unter ihren Sohn, drückte ihn sanft an sich und folgte den Bannern so lange mit den Augen, bis auch das letzte mit dem Horizont verschmolzen war. Wann sie Harold wohl wiedersehen würde? Niedergedrückt wandte sie der Zugbrücke den Rücken und schritt langsam über den von den beherbergten Truppen verwüsteten Hof auf das zweistöckige Wohngebäude zu, das im

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