Im Reich der Löwin
direkten Schatten des Bergfriedes lag. Eigentlich hatte sie ihren Gemahl zu der zweiten Krönung König Richards nach Winchester begleiten wollen. Aber als vor drei Tagen der kleine William erkrankt war, hatte sie beschlossen, auf der Burg in Huntingdon zurückzubleiben und sich um die häuslichen Angelegenheiten zu kümmern. Der weiter südlich gelegene Besitz war ihr lieber als der beängstigend große Hof in Leicester, für den Harold so bald als möglich einen Verwalter einsetzen wollte. Auch hatte sie ihre Freundin, Lady Marian, in der Nähe, da auch deren Gemahl, Robin of Loxley, gemeinsam mit dem König aufgebrochen war, um Philipp von Frankreich die unrechtmäßig annektierten Gebiete und Burgen wieder abzunehmen.
»Mach nicht solch ein Gesicht«, versuchte die nicht weniger bedrückt wirkende Marian Catherine aufzumuntern, als diese die Halle der Festung betrat und sich mit dem Knaben im Schoß auf eine Bank fallen ließ. »Du erschreckst ja die Kinder.« Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht der flachsblonden Lady of Loxley, deren Blick versonnen auf der kleinen Aliénor lag. Geistesabwesend verfolgte sie, wie eine Handvoll Dienstmägde am anderen Ende des langen Raumes die Überreste des Frühstückes abräumten, während sie der Tochter der Freundin ihren in gesüßte Milch getunkten Zeigefinger in den Mund schob. Gierig saugte das Mädchen daran. Als sie ihren Zwillingsbruder, dessen beinahe wütendes Schluchzen sich inzwischen zu einem leisen Wimmern abgeschwächt hatte, erblickte, streckte sie strahlend die Hand aus und gluckste ein kaum verständliches, »Liam!« Als lindere der Anblick der Schwester die eben noch empfundenen Schmerzen, verwandelte sich auch Williams zerknitterte Miene in ein tränenfeuchtes Lachen. Und nachdem sie ihm noch einmal die Stirn gefühlt und sich versichert hatte, dass das warme Kleidchen seinen Hals bedeckte, setzte Catherine ihn auf das vor der Feuerstelle ausgelegte dicke Bärenfell und beobachtete, wie er auf die rotwangige Aliénor zukrabbelte, die sich zappelnd aus Marians Umarmung befreit hatte.
»Wir werden einfach das Beste aus der Abwesenheit der Männer machen«, versetzte Marian entschlossen, griff nach einem der Damespiele, die den Bewohnern der Burg die langen Winterabende versüßt hatten, und begann, es zwischen sich und Catherine aufzubauen. Ein entschlossener Zug trat in ihre temperamentvollen, grauen Augen. Mit geübten Bewegungen setzte sie die aus Bein geschnitzten Spielsteine auf die schwarzen und weißen Felder des Brettes, zupfte die safrangelben Röcke ihres Bliauds zurecht und nestelte an der gestickten Verzierung ihres Ausschnittes. »Glaub mir, du wirst in den nächsten Monaten genug zu tun haben. Es wird dir vorkommen, als wäre Harold überhaupt nicht fort gewesen«, ermunterte sie die Freundin, die sich – trotz der angenehmen Wärme fröstelnd – über die seidenbedeckten Oberarme strich. »Spätestens Ende des Jahres wird er wieder bei dir sein.« Als wolle sie sich selbst vom Wahrheitsgehalt dieser Worte überzeugen, nickte sie nachdrücklich, während Catherine einer der Küchenmägde zuwinkte. »Bring uns einen Krug warmes Bier«, befahl sie dem drallen Mädchen, das sich respektvoll vor der Herrin der Burg verneigte und davoneilte, um den Auftrag auszuführen.
»Wenn sich doch nur Berengaria nicht mit Richard überworfen hätte«, stellte Catherine sehnsüchtig fest. »Dann säßen wir jetzt nicht hier!« Wie gerne wäre sie wieder in die Dienste der Königin getreten. Doch nachdem sich Berengaria von Navarra auf eine winzige Festung im Osten Frankreichs zurückgezogen hatte, um dort wie eine Nonne die Abgeschiedenheit zu suchen, gab es für die adeligen Damen des Landes keinen Platz, an dem sie sich versammeln konnten. Denn auch Aliénor von Aquitanien hatte den Entschluss verkündet, sich nach der Ankunft auf dem Festland in die Abtei von Fontevrault zu begeben. Sodass es in absehbarer Zeit keinen weiblichen englischen Hof geben würde. »Es bringt nichts, Dingen hinterherzutrauern, die du nicht ändern kannst«, warf Marian ein. »Du hast ja recht«, seufzte die Freundin, streifte undamenhaft die Schuhe ab und zog die Füße unter ihr Gesäß. »Es ist nur so ungewohnt für mich, einfach so dazusitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht«, vertraute sie der zwei Jahre älteren Freundin an. Marian nickte. Ebenso wie Catherine hatte auch sie die vergangenen Jahre im Mittelpunkt von Abenteuern und Kampfhandlungen
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