Im Saal der Toten
wir am Tatort finden.«
Teddy sah ängstlich zwischen uns hin und her, wagte aber nicht, unsere Autorität in Frage zu stellen. Er stocherte mit dem Wattestäbchen im Mund herum und reichte es dann Mike.
»Sind Sie vorbestraft, Teddy?«
»Ja, zwei Mal. Wegen Trunkenheit am Steuer.« Seine Stimmung schwankte jetzt zwischen Trauer und Trotz. »Ich vermute, Sie wollen mir auch die Fingerabdrücke abnehmen.«
»Ganz recht«, sagte Mike. »Das ganze Schlafzimmer ist voller blutiger Abdrücke. Wir müssen herausfinden, welche davon nicht von Ihnen oder Emily stammen.«
Mike verließ erneut das Zimmer, um den Abstrich ans Labor zu schicken.
Teddy stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich vor, als wolle er mir etwas zuflüstern. Seine Augen waren blutunterlaufen, und seine Hände zitterten – wahrscheinlich eher vom Alkohol als aus Angst.
»Können Sie mir einen Gefallen tun, Miss Cooper?«
»Kommt drauf an.«
»Sie werden Emily sehen, nicht wahr? Ich meine, im Leichenschauhaus?«
»Na ja, ich muss nicht unbedingt dorthin, aber Mike wird sicherlich –«
»Nein, Sie müssen mir versprechen, dass Sie selbst hingehen.« Er nahm meine Hände. »Mr Chapman wird mich für verrückt halten, aber Sie müssen sichergehen, dass Emily tot ist. Wirklich tot.«
Gott bewahre mich vor noch einem durchgeknallten Zeugen!
Ich drückte seine Hände. »Ich bin mir nicht sicher, dass ich Sie verstehe. Wollen Sie, dass Emily tot ist?«
»Nein, nein. Es ist nur … ich musste Emily versprechen, mich zu vergewissern, dass sie auch wirklich tot ist, sollte ihr jemals etwas zustoßen. Das war ihre größte Angst.«
Ich versuchte ihn zu beruhigen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ohne mich genauso irrational anzuhören wie er. »Die meisten Leute haben Angst vorm Tod, Mr Kroon. Dieser Überfall heute Nacht kam so überraschend, so –«
»Ich rede nicht vom Tod. Sie hatte panische Angst, bei lebendigem Leib begraben zu werden.«
»Bei lebendigem Leib begraben zu werden? Davor hatte Emily Angst?«
»Ganz genau, Miss Cooper.«
Ich lehnte mich zurück und stand dann auf. Ich hatte zwar den Leichensack nicht gesehen, aber den blutigen Tatort. »Das Versprechen kann ich Ihnen geben, Mr Kroon. Sie haben mein Wort, dass Sie sich darüber keine Sorgen machen müssen. Das Gerichtsmedizinische Institut ist das beste im Land – Emily ist in fähigen Händen, und es steht außer Zweifel, dass sie tot ist. Wir sind hier nicht in einem Krimi, also reißen Sie sich bitte zusammen.«
Teddy Kroon lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Er lachte das erste Mal, seit ich ins Zimmer gekommen war. »Sie haben Recht, Miss Cooper. Zu viel Poe. Emily hat wohl zu viel Edgar Allan Poe gelesen.«
13
»Wenn ich’s dir sage: Zwischen diesem Mord und dem eingemauerten Skelett besteht eine Verbindung.« Es war nach sechs Uhr morgens, und Teddy Kroon hatte das Revier verlassen. »Man findet ein Skelett in dem Haus, in dem Poe gewohnt hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach lebendig begraben. Du posaunst es der Presse aus und die Story kommt auf die Titelseite. Vierundzwanzig Stunden später ist Emily tot. Der Tatort ist so inszeniert, dass es aussieht, als wäre dem Seidenstrumpfvergewaltiger die Sache aus dem Ruder gelaufen. Aber Emily Upshaws Tod hat nichts mit unserem Serienvergewaltiger auf der East Side zu tun.«
»Wo soll da die Verbindung sein?« Mike hatte die Beine auf den Schreibtisch des Lieutenants gelegt, und ich hing müde im Stuhl, als Mercer ins Zimmer kam. »Sie mochte Poe. Na und? Es gibt keinen halbwegs gebildeten Erwachsenen in Amerika, der nicht mit seinen Erzählungen aufgewachsen ist.«
»Und panische Angst hat, bei lebendigem Leib begraben zu werden? Ich bitte dich.«
»Ist es dir nicht kalt über den Rücken gelaufen, als du die Geschichte das erste Mal gelesen hast? Diese Bilder gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Der Hebel in der Familiengruft, der die eisernen Tore öffnet, der gepolsterte Sarg mitsamt Deckel und Scharnieren, die große Glocke, die mit einem Seil an der Hand der Leiche befestigt ist. Lebendbestattung, so hat er es genannt, oder? Etwas Schlimmeres kann man sich nicht vorstellen. Ich muss damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein, aber ich konnte danach wochenlang nicht schlafen.«
»Mike, wir reden hier über eine intelligente Erwachsene. Es ist unwahrscheinlich, dass sie zeit ihres Lebens von einer Geschichte verfolgt wurde, die sie als Kind gelesen hat. Du
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