Im Schatten der Giganten: Roman
»Du hast eine ganze Stadt geopfert. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du Alvantes dazu gebracht hast, Altapasaeda zu opfern.«
»Es ist kein Opfer, sondern ein Schachzug.«
»Aber vielleicht der falsche.«
Ich bereute meine Kaltschnäuzigkeit sofort. Für einen Moment wirkte Estrada, als könnte sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich versuchte, mir die Willenskraft vorzustellen, die nötig war, einen solchen Plan zu entwickeln und so lange Zeit an seiner Verwirklichung zu arbeiten, die vielen Rückschläge und Tragödien bis zu diesem Zeitpunkt hinzunehmen, bis schließlich alles in der Schwebe war und auf Estrada herabzustürzen drohte.
»Es wird funktionieren«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Wie kannst du Einfluss darauf ausüben, wann Moaradrid hierherkommt?«
Estrada sprach noch leiser, als kämen die Worte aus einer tiefen inneren Schlucht. »Die beim Kampf im Hafen verwundeten Männer befinden sich im Palast. Moaradrid hat sie bestimmt gefunden und gefoltert. Ihre Anweisungen lauteten, unseren Treffpunkt gegen Morgengrauen preiszugeben.«
Ich schauderte. Alvantes’ Elitesoldaten waren noch tapferer, als ich gedacht hatte. Ich erinnerte mich an Salzlecks Zustand, als ich ihn gerettet hatte. Die Männer im Palast mussten Schreckliches ausgestanden haben. Aber … »Das Morgengrauen liegt schon eine ganze Weile zurück.«
»Ja.«
»Und wir können nicht so weit von Altapasaeda entfernt sein.«
»Etwa drei Stunden.«
Mir wurde plötzlich klar, dass selbst der heftigste Regen kein so lautes Hämmern verursachen sollte. »Das ist nicht nur Regen, oder?«
Fast im gleichen Moment erklang eine kehlige Stimme. » Los!«
Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, der mich fast von der Sitzbank geworfen hätte. Jetzt hörte ich im Regen das Trommeln zahlloser Hufe, von weitaus mehr Pferden, als unserem kleinen Gefolge zur Verfügung standen. Ich wagte einen Blick aus dem Fenster und bedauerte ihn sofort – auf der Straße hinter uns wimmelte es von Reitern. Ich sah sie nur kurz, bevor mich das Schaukeln der Kutsche vom Fenster zurückwarf, doch in diesem einen Moment gewann ich den Eindruck, dass uns Moaradrids ganzes Heer verfolgte.
Die Straße südlich von Altapasaeda verlief recht gerade. Schon nach kurzer Zeit erreichten wir die halsbrecherische Geschwindigkeit, die mich bei der Flucht vom Hafen entsetzt hatte. Dieser Kutsche fehlte der Luxus des prinzlichen Gefährts, aber dafür schien sie noch etwas schneller zu sein. Trotzdem fühlte es sich an, als könnte sie jeden Moment auseinanderbrechen. Durch zusammengebissene Zähne brachte ich hervor: »Wie weit ist es?«
»Bis zum Treffen? Das ist für Mittag vorgesehen.«
» Bis dahin sind es noch zwei Stunden!«
»Alvantes kann es schaffen.«
»Er vielleicht. Aber was ist mit uns?«
Die Minuten vergingen quälend langsam. Ich hatte das Gefühl, am ganzen Körper blaue Flecken zu bekommen, und das Schaukeln und Schütteln nahm kein Ende. Ständig wurde ich hin und her geworfen, wie das Schiffchen eines Webstuhls. Estrada ertrug es schweigend, und ich versuchte, mir ein Beispiel an ihr zu nehmen. Bisher hatten uns die Reiter noch nicht eingeholt, und nur das zählte.
Es gab, soweit ich das feststellen konnte, einige wenige Vorteile, die uns am Leben hielten. Unsere Pferde waren ausgeruht und vermutlich die schnellsten, die Altapasaeda zu bieten hatte. Alvantes und seine Männer kannten diese Straße besser als unsere Verfolger, denen es vermutlich an berittenen Bogenschützen mangelte, denn niemand schoss auf uns. Und schließlich hatten wir die schlichte Logik der Jagd auf unserer Seite: Der Fuchs ist immer motivierter als die Hunde, die ihn zerfleischen wollen.
Aber die Kutsche und Salzlecks Karren verlangsamten unser Tempo, trotz der haarsträubenden Bemühungen der Kutscher. Als einige Minuten verstrichen waren und wir unseren Vorsprung bewahren konnten, fragte ich mich, ob die Verfolger es wirklich ernst damit meinten, uns einzuholen.
Kurz darauf bekam ich Antwort in Form eines Krachens am Heck der Kutsche, über Estradas Kopf. Ein zweites Donnern folgte, und dann vernahm ich Geräusche, die sich anhörten, als würde jemand Kieselsteine auf dem Dach der Kutsche verteilen.
»Jemand ist an Bord gesprungen«, flüsterte ich.
Estrada nickte und hob den Zeigefinger vor die Lippen. Dann langte sie nach unten und zog ein scheußlich aussehendes Stilett aus dem Stiefel.
Diese Frau
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