Im Schatten der Leidenschaft
er sie von seinem Knie und stand auf. Dolly würde sich nichts dabei denken. Sie würde ihn einfach nur als den Vormund sehen, der sein unglückliches, junges Mündel tröstete.
»Ja, und was für ein Aufstand«, erklärte Dolly. »Eine Undankbarkeit -«
»Darum ging es doch überhaupt nicht«, sagte Chloe scharf.
Ihre Anstandsdame richtete sich indigniert auf und fuhr mit ihrer üblichen Taktlosigkeit fort: »Samuel ist wieder zurückgekommen. Er sagt, er hat sie überall gesucht und sie nicht gefunden. Da kann man doch nur sagen: Alles Gute und Adieu!, wenn ihr meine Meinung hören wollt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich das je wollen könnte«, sagte Chloe bissig. »Ihre Meinungen, Madam, haben nicht die geringste -«
»Chloe, das reicht.« Hugo schritt ein, bevor die Auseinandersetzung zu weit ging.
Glücklicherweise kam in diesem Augenblick Samuel herein. Schnee ging an seinem Mantel und auf seinen buschigen grauen Augenbrauen. »Keine Spur«, sagte er. »Und es hat sie auch niemand gesehen. Ich habe überall gefragt. Aber man kann sowieso draußen nicht viel sehen«, fügte er noch hinzu und ging ans Fen-ster, um einen Blick auf den immer noch dicht fallenden Schnee zu werfen.
Er sah die noch von Tränen verschmierte Chloe an und sagte rauh: »Nun mach dir mal nichts draus, Mädel. Sie wird schon wissen, wo sie hingeht. Sie ist ja nicht dumm. Wenn du mich fragst, ist sie jetzt bestimmt viel glücklicher. Kein Baby, über das sie sich Gedanken machen muß, sie hatte das Geld, das du ihr gegeben hast und die ganzen guten Kleider. Wahrscheinlich ist sie inzwischen in irgendeinem Wirtshaus und amüsiert sich wunderbar.«
»Bis das Geld alle ist«, sagte Chloe, ohne sich von dieser wahrscheinlich richtigen Vorstellung ablenken zu lassen. »Vielleicht kommt sie dann wieder zurück.«
Samuel zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, daß es jetzt wichtiger ist, zu entscheiden, was mit dem Baby passiert.«
»Wir werden eine Amme brauchen, denke ich«, sagte Chloe. »Aber wo finden wir die bei diesem Wetter?«
»Nun, ganz zufällig hat die Frau des ersten Stallknechts gerade kürzlich ein Kind bekommen. Ich schätze, daß sie bestimmt nichts dagegen hat, für ein paar Guineen noch eines dazuzunehmen.«
»Oh, Samuel, du bist wunderbar.« Chloe eilte durch das Zimmer und küßte ihn herzlich auf beide Wangen, ohne Lady Smallwoods entsetzten Aufschrei zur Kenntnis zu nehmen.
»Nun aber ab mit dir«, sagte Samuel und wurde rot. »Wenn du mir das Baby herunterbringst, werde ich es hinunter in die Stallgasse bringen. Ted wartet schon auf mich.«
»Und wenn sie dann entwöhnt ist, kann sie kommen und bei uns wohnen«, stellte Chloe fest.
»Da können wir nur hoffen, daß dein Ehemann nichts gegen ein Kleinkind ungewisser Herkunft einzuwenden hat«, gab Hugo leichthin zu bedenken.
Chloes Herz setzte einen Schlag aus, als ihr klar wurde, daß sie einfach von einer verbotenen Annahme ausgegangen war - eine Annahme, die trotz ihrer gegenwärtigen Entfremdung immer noch ein wesentlicher Bestandteil ihrer Vorstellungen von der Zukunft war.
Sie sagte mit einem leichten Schulterzucken: »Oh, ich bin sicher, daß Persephone auch das unfreundlichste Herz für sich einnehmen wird.«
»Persephone! Herr im Himmel! Was ist das für ein Name für einen armen kleinen Bastard aus dem Bauch der Stadt?« rief Hugo und dachte nicht mehr daran, wie Denis DeLacy wohl auf die Aussicht reagieren würde, Adoptivater zu werden.
Chloes Mund bekam den bekannten Ausdruck von Sturheit. »Ich sehe nicht ein, wieso ein armer Bastard nicht einen hübschen Namen haben sollte.«
»Hugo!« quietschte Lady Smallwood. »Oh, mein Gott, was wird sie noch alles sagen? Wenn jemand hört, daß ... oh, mein armes Herz!« Sie sank auf einen Stuhl und durchsuchte ihr Täschchen nach ihrem Riechsalz.
Unglücklicherweise sah Hugo Chloes Blick, der erfüllt war von hinterlistigem Vergnügen. Auch Samuel grinste mit unverhohlenem Genuß. Hugo entwickelte als einzig mögliche Rettung einen schweren Hustenanfall.
»Also, dann gehe ich und hole Persephone«, erklärte Chloe und betrachtete ihren krampfhaft hustenden Vormund mit gespielter Sorge. »Das ist ja wirklich ein schlimmer Husten, Hugo.«
Er riß sich zusammen. »Muß es denn Persephone sein?«
»Ja«, sagte Chloe einfach und wandte sich zur Tür. »Und wenn ich schon in der Stallgasse bin, dachte ich, vielleicht, weil es doch so eine schreckliche Nacht ist und er sicher friert und einsam
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