Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
einfach loskriegt.
» Oh«, brüllt er über die Musik hinweg. » Sie halten sich also für wichtig, wie?«
» Hören Sie«, begehrt sie unvorsichtigerweise auf. » Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen, und falls ich es getan habe, dann entschuldige ich mich dafür. Mehr habe ich nicht zu sagen–«
Er zieht ein paar zerknitterte Papiere aus seiner Tasche und wedelt damit vor ihrem Gesicht herum. Er hat eine Blutblase unterm Daumennagel; muss ihn sich in einer Tür eingeklemmt haben oder so. Flüchtig erkennt sie die Überschrift ihres Artikels vom letzten Wochenende: ZWÖLF ALKOPOPS , EIN KEBAP UND EIN MORD : EINE GANZ NORMALE NACHT AUF WHITMOUTHS SCHÄBIGER SCHATTENSEITE . Er hat ihn sich aus dem Internet ausgedruckt. Es ist eine blödsinnige Überschrift, und sie weiß es auch, aber sie ist weder für die Überschriften noch für die Bildauswahl verantwortlich. » Das ist meine Heimat!«, kreischt er und Spucketröpfchen landen auf ihrem Gesicht. » Wie können Sie es wagen? Wenn Sie nicht mit den echten Menschen reden wollen, die hier leben, haben Sie auch überhaupt kein Recht zu urteilen!«
Sie schwankt. Und weiß, dass zumindest teilweise wahr ist, was er sagt. Wenn irgendjemand mit ihm übereinstimmt, dann ist es Jade Walker, das böse Mädchen, das Kind ohne Gewissen. Doch genau wie die anderen Mitglieder ihrer Zunft neigt Kirsty zu journalistischem Doppeldenken: Sie kann sich nur an ihre guten Arbeiten erinnern, wird die schlechten immer verleugnen, wird anderen immer den Schwarzen Peter zuschieben und jede persönliche Verantwortung ablehnen. Wie jeder, in jedem Büro, überall. » Das ist nicht meine Schuld!«
» Sie wissen, dass es Ihre Schuld ist!«, schreit er. » Der ganze Ort hier braucht Aufklärung. Ich dachte, das hätten Sie kapiert. Jedenfalls hat es so ausgesehen. Nach dem, was Sie hier gesagt haben. Aber das haben Sie gar nicht, kein bisschen. Sie wollen uns einfach nur verarschen, und–«
Eine Stimme, tief und selbstsicher, ertönt hinter Martins linker Schulter, und erleichtert spürt sie, wie ihre Züge sich entspannen. » Macht er Ihnen Ärger?«
Martin sieht sich um und wird von einer Woge widerstreitender Gefühle erfasst. Victor Cantrell. Amber Gordons Typ. Das soll doch wohl ein Witz sein! Sie kennt Victor Cantrell? Wie ist das möglich?
Er wendet sich ihr wieder zu und sieht, wie sie seine wohlgeformten Züge studiert, das volle Haar, das Elvis-Westernhemd, den akkurat gestutzten Bart. Und dabei sieht sie fast dankbar aus.
» Ich denke, du solltest die Dame in Ruhe lassen, Martin«, sagt Vic.
Unmöglich. Wie kann das möglich sein? Es ist irgendeine– Verschwörung. Irgendein– Komplott, um mir alles zu vermasseln.
» Was machst du denn hier?«
» Was ich hier mache, spielt keine Rolle«, erklärt Vic ruhig. » Was dagegen eine Rolle spielt, ist, dass ich dir sage, du sollst die Dame in Ruhe lassen.«
» Verpiss dich«, sagt Martin. » Du hast ja keine Ahnung.«
» Ich weiß genug, Martin. Du solltest aufhören, hier die Nervensäge zu spielen.«
» Ich mache, was ich will.«
Da tut Vic etwas, das ihm Angst einjagt. Eine winziges Zurückzucken des Ellbogens kombiniert mit einem halben Schritt nach vorn: zu unbedeutend, um die Rausschmeißer anzulocken, aber eindeutig genug, um seine Absicht klarzumachen. Martin macht einen Satz zurück, und Furcht und Enttäuschung überkommen ihn. » Aber ich kenne sie!«, schreit er. So kommt es ihm wirklich vor. Nachdem er ihr die letzten zwei Tage gefolgt ist, nachdem er bis tief in die Nacht hinein alles gelesen hat, was sie jemals geschrieben hat, kennt er sie so gut wie jeder andere.
» Nein, tust du nicht«, entgegnet Vic. » Du bist einfach nur eine Nervensäge.«
Scheiße, Vic kennt sie. Ganz sicher ist das so, denn sonst würde er das nicht sagen. Martins Gedanken wandern zum Nachmittag des Vortages zurück, als er durch das Schaufenster der Kaz-Bar geschaut hat, um zu sehen, was sie treibt. Plötzlich durchzuckt ihn die Erkenntnis, wer ihre Begleiterin war– obwohl er sie nicht deutlich sehen konnte, wegen des schummrigen Kerzenlichts und der riesigen dunklen Brille, hinter der sie ihr Gesicht versteckte. Amber Gordon. Ach du Scheiße! Die haben sich alle die ganze Zeit gekannt. Die stecken… alle unter einer Decke.
» Sieh mal«, sagt Vic, » ich musste dir schon mal Beine machen. Das will ich nicht wieder tun müssen. Du bist eine verfluchte Landplage, und du sollst endlich aufhören, andere zu
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