Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
stockend.
Es dauerte nur fünfzehn Minuten, bis der Notarzt zur Stelle war. Nachdem wir den schweren Mann auf die Trage gewuchtet hatten und der Arzt nach einer kurzen Untersuchung etwas von »vermutlich Herzinfarkt« gemurmelt hatte, war ich allein.
Allein mit einem Brief, auf dem der Wirt gelegen hatte.
Es war ein Schreiben der Bank. Darin wurde Bezug auf verschiedene Kredite mit Aktenzeichen, diverse persönliche Besprechungen und Schriftwechsel genommen.
» ... und teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihnen mit sofortiger Wirkung alle ... kündigen. Wir bitten um Rückerstattung von ...«
Gezeichnet Klaus Müller, ppa ...
Ich verschloss die Küchentür und schob den Schlüssel unter der Tür durch.
Der Münsterplatz-Krieg hatte sein erstes wirkliches Opfer unter den Beteiligten gefordert.
Ottos Karren stand an seinem Platz, und ich beeilte mich, die Kiwis zu kaufen, froh, dass er sich noch nicht verabschiedet hatte.
Ich vertrieb die weiteren Gedanken.
Pater Lutz war genau das, was man sich unter einem Pater vorstellte. Mittelgroß, mit einem gepflegten weißen Bart, einem kugelrunden Bauch und lustigen Äuglein, die über rosa Backen und eine Lesebrille blinzelten.
»Für welches Jahrhundert interessieren Sie sich?«
Seine sonore Stimme prädestinierte ihn für eine Bassstimme im Kirchenchor, zum Verlesen der Predigt war sie zu ruhig und zu gleichmäßig.
»Ab achtzehnhundert.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Was ist denn bloß an dieser Zeit so interessant? Die Geschichte hat Besseres geschrieben. Sie sind in wenigen Wochen der Vierte, der danach fragt. Aber kommen Sie.«
Wir durchquerten eine Bibliothek, die das Herz eines jeden Antiquars hätte bis zum Hals pochen lassen. Buchrücken reihte sich an Buchrücken, vom Boden bis zur Decke.
Der Pater bemerkte meinen bewundernden Blick.
»Das sind etwa zwanzigtausend Schriften, die sich alle mit dem Glauben beschäftigen. Doktorarbeiten, Vorlesungen seit dem Mittelalter, Reiseberichte von Missionaren und so weiter.«
Wir durchquerten einen weiteren Raum.
»Hier lagern die Dokumente, die sich mit der Verwaltung des Bistums von neunzehnhundert bis zum Computer-Zeitalter beschäftigen. Und hier ...«, er führte mich in den nächsten Raum, »ist alles von fünfzehnhundert bis Ende achtzehnhundert archiviert.« Er lächelte verschmitzt. »Ein schönes optisches Zeugnis, wie sich die Papierflut ständig vermehrt, und damit auch diese leidigen Verwaltungsvorgänge. Was in den eineinhalb Jahrtausenden davor geschrieben wurde, passt in einen einzigen Raum.«
Er hatte recht. So plastisch war mir die Informationsfülle unserer Zeit noch nicht vor Augen geführt worden. Nur weil alles nicht sichtbar auf Datenträgern verschwand, machten wir uns keine Vorstellung davon, dass wir im Zeitalter der Informationswut lebten.
Ich nahm mir vor, nur den Inhalt unseres Zentralcomputers in der Redaktion einmalu nter dem Gesichtspunkt aufzuarbeiten, wie viele Wälder herhalten und wie viele Tiere ihr Leben lassen müssten, um daraus Bücher dieser Qualität zu machen.
»Welche Jahre interessieren Sie?«, riss mich der Pater aus meinen Betrachtungen.
»1800 bis 1810.«
Zielsicher steuerte er auf eine Buchreihe zu und entnahm ihr drei Bände, die in etwa die Größe eines Schulatlas hatten, allerdings ein Vielfaches dicker waren.
»Hier sind alle Verwaltungsakte chronologisch und im Original.« Er wuchtete die Bücher auf einen Tisch. »Bitte bedienen Sie sich. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie. Ich bin in der Bibliothek.«
Er klappte den ersten Band auf und entfernte sich.
Im März des Jahres 1801 wurde ich fündig.
Grob konnte ich entziffern, dass es sich um eine Anweisung des Herzogs von Modena handelte, die genau beschrieb, welche Liegenschaften des Bistums Konstanz an sie abzutreten waren.
Da ich mit den Bezeichnungen nichts anzufangen wusste, bat ich Pater Lutz um Hilfe.
»Das ist selbst für uns schwer zu verstehen«, murmelte er. »Das sind Bezeichnungen von Liegenschaften, die es heute teilweise nicht mehr gibt. Dazu müsste man die verschiedenen Gebietsreformen bis 1955 miteinander vergleichen. Bevor Sie sich aber weiter den Finger wund lesen, nur so viel ...«
Es folgte eine Geschichtsstunde, die nur jemand halten konnte, der sich ausgiebig mit den Dokumenten beschäftigt hatte.
Demnach hatte die Kirche im damaligen Breisgau alle Liegenschaften an den Herzog von Modena abzutreten. Die in direktem Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung des kirchlichen
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