Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
nicht kennen?«
Ich erzählte, was ich von Dr. Simonte über Enricowusste.
Sie nahm mich an der Hand und zog mich auf die Bank. »Mal langsam, damit ich das auch begreife. Enrico kann nicht verschwunden sein, denn ich habe ihn selbst getroffen, und zwar letzten Monat in der Stadt. Ob da ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt, wage ich sehr zu bezweifeln. Er ist von diesem Hühnchen von Fräulein Solvay und seinem feinen Schwager reingelegt worden. Die hat sich an jeden rangeschmissen, der ihr sagte, wo es lang ging. Ihr armer Vater hat sich oft genug bei meiner Mutter ausgeweint, dass seine Enkelin langsam verwahrlost, weil die Mutter mal wieder mit irgendwelchen dubiosen Typen noch dubiosere Geschäfte machen war. Man sagt, dass sie auch mit diesem Simonte ein Verhältnis hatte. Reicht das?«
Das reichte allerdings,und bevor ich daran erstickte, erzählte ich ihr von Lisa und dem wahren Vater.
Sie hörte ruhig zu und nahm meine Hand.
»Das erklärt einiges. Komm, mir wird kalt. Wir reden drinnen weiter.«
Die alte Dame saß im Wohnzimmer schlafend vor dem laufenden Fernseher.
Margot öffnete eine Flasche Wein und goss drei Gläser ein.
»Mutter«, flüsterte sie, »Mutter, dein Schlaftrunk.«
Die Seniorin öffnete erschrocken die Augen und gab ein paar gurgelnde Laute von sich. »Ach, ihr seid es!«
»Mutter, wir brauchen deine Hilfe«, hauchte Margot jetzt etwas lauter, wie zu einem Kind, dass man aus dem Tiefschlaf gerissen hatte und nicht erschrecken wollte.
»Ich höre«, krächzte sie mit verschleimter Stimme, als sie im Diesseits angekommen war, und Margot erzählte ihre Version meiner Geschichte.
Die Mutter nahm einen Schluck Wein und verlangte nach einem Zigarillo.
»Das stimmt, was ihr da erzählt, und doch nicht so ganz«, blies sie den Rauch von sich. »Der Professor war schon ein Freund des Hauses, als dein Vater noch lebte. Seine Frau ist kurz nach der Geburt der Tochter gestorben. Er hat versucht ihr ein guter Vater zu sein, aber er war zu alt, um diesen Wildfang zu bändigen. So ging diese Gerda bald ihre eigenen Wege. Sie bekam mit neunzehn ein Kind. Von wem? Keine Ahnung. Kann von diesem Simonte sein, kann aber auch nicht. Dann lernte sie Enrico kennen. Der nahm sie mit in das Münsterca´e und übertrug ihr die Geschäftsführung einer Nachtbar, die sich damals unter dem Café befand. Da hat die Dame wohl Umsatz mit Einnahmen verwechselt. Es kam zum Krach mit der Verwaltung, weil die Pacht nicht mehr bezahlt wurde. Da muss Enrico aus lauter Liebe auch in die Kasse des Cafés gegriffen haben. Das konnte nicht lange gut gehen. Danach standen die beiden auf der Straße.«
Auch wenn das die dritte Version war, die ich hörte, schien mir diese die plausibelste zu sein.
»Der Professor hat dann sogar seine Pension beliehen, um die Schulden seiner Tochter zu bezahlen. Sollte Simonte eine Betrugsanzeige gegen Enrico erstattet haben – was ich mir nicht vorstellen kann –, dann aus anderen Gründen ... Warum sie ihre Tochter versteckt, kann ich mir nicht erklären. Vor Simonte bestimmt nicht. Der ist zwar ein knallharter Geschäftsmann, der für seinen Vorteil auch mal die Gesetze verbiegt, aber Gewalt gegen Kinder traue ich ihm nicht zu. Und Enrico eigentlich auch nicht ...«
Dieser von mir bisher kaum beachtete Enrico bekam langsam Konturen, passte aber in keines meiner Schemata. Dafür war ich mir sicher, dass Gerda mich nach Strich und Faden belog. Aber wozu?
»Wozu brauchte der Professor die Urteilsbegründung, die in der Mappe fehlt?«
Frau Hofmann stellte den Ton am Fernseher aus und blies einen letzten Kringel in die Luft, um dann den Zigarillostummel im Aschenbecher auszudrücken.
»Ich habe sie ihm erlaubt zu nehmen. Für mich ist sie nicht von Bedeutung, das Urteil reicht, und er brauchte sie, um etwas abzugleichen. Mehr weiß ich auch nicht.«
Sie schaltete den Fernseher aus und erhob sich.
»Wird Zeit für mich. Aber warum interessiert Sie das alles? Ich dachte, Sie schreiben über die Geschichte?«
Margot, die die ganze Zeit wortlos mit angezogenen Beinen neben mir gesessen hatte, nahm mir die Antwort vorweg.
»Gerd glaubt, dass uns die Geschichte heute einholen könnte.«
»Die Geschichte holt uns immer ein«, murmelte sie. »Deshalb lernen wir nie daraus. Sie kommt uns zu bekannt vor, als dass wir sie als Gefahr empfinden. Gute Nacht.«
Weit nach Mitternacht hatte ich noch eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen.
»Willst du wie immer schlafen oder in unserem
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