Im Schatten von Montmartre
hat
der Filmstar wieder furchtbare Angst und sagt: ,Das ist ja furchtbar!’“
Meine Geschichte war zu Ende. Ich hatte ohne
Unterbrechung gesprochen. Jetzt schwieg ich, stand reglos am Fenster und
betrachtete die Landschaft, die sich vor meinen Augen ausbreitete. Der Verkehr
auf der Straße entlang des Waldes schien wieder freigegeben worden zu sein. Die
Autos in der langen Schlange machten den Eindruck, als hätten sie alle dasselbe
Ziel. Der Hubschrauber war verschwunden. Die Treibjagd war beendet. Vielleicht
fuhren all die braven Bürger in ihren Blechkisten an den Ort des Halali...
Rita Cargelos Stimme, ein seltsames Gemisch aus
Sanftmut, Schwäche und Selbstsicherheit, riß mich aus meinen Träumereien:
„Könnten Sie die Jalousien wieder
herunterlassen? ... Kommen Sie, jetzt möchte ich Ihnen eine Geschichte
erzählen.“
Ich setzte mich wieder in den Sessel. In dem
Dämmerlicht konnte ich so grade die Umrisse der Schauspielerin erkennen.
Zusammengekauert saß sie in ihrem Sessel, den Kopf an der Rückenlehne, die Arme
auf den Armlehnen. Eine Position wie die eines zum Tode Verurteilten auf dem
elektrischen Stuhl. Beruf verpflichtet: In dieser Haltung lag ein gut Teil Schauspielerei.
„Dieser Unbekannte“, begann Rita Cargelo, „der
Mörder... Wenn ich es mir jetzt überlege, lag auf Pruniers Gesicht ein
triumphierender, zufriedener Ausdruck... Ich glaube, daß der Mörder etwas aus
der Rue des Mariniers mitgenommen hat: den Film — denn darum handelt es sich —
, den Prunier mir zeigen wollte, um mir zu beweisen, daß er tatsächlich etwas
gegen mich in der Hand hatte... Den Film, an dessen Existenz ich zu zweifeln
begonnen hatte. Und der Mörder... Sie haben am Anfang gesagt, Sie seien als
Freund gekommen... Würden Sie eventuell versuchen, den Mörder zu finden und
ihm... diesen Film abzunehmen?“
„Ich kann’s versuchen, ja.“
„Vielen Dank. Ich werde Ihnen etwas geben, das
Ihnen dabei behilflich sein könnte
Sie stand auf und ging hinaus. Nur der Duft
ihres Parfüms blieb zurück. Nach einer Weile kam sie wieder ins Zimmer und
reichte mir ein Notizbuch mit Ledereinband.
„Hier“, sagte sie. „Deswegen habe ich Sie eben
als Lügner bezeichnet, als Sie behaupteten, Sie hätten meine Telefonnummer aus
Pruniers Adreßbuch. Ja, sie steht hier drin, aber das konnten Sie nicht wissen!
Sie konnten es nur vermuten. Denn dieses Adreßbuch befindet sich seit der
Mordnacht in meinem Besitz. Ich habe es mitgenommen... Ich dachte, ich würde es
irgendwann brauchen können
„Ach, dann haben Sie es ihm geklaut?“
„Nein. Es lag auf der Straße, vor dem
Hauseingang. Ich glaubte, Prunier hätte es verloren. Aber jetzt frage ich mich,
ob es nicht dem Mörder aus der Tasche gefallen ist
„Wenn das der Fall ist, dann hat er es an sich
genommen, weil seine Telefonnummer drinsteht. Gut“, sagte ich und steckte das
Notizbuch ein, „ich werd’s mir zu Hause anse-hen... Jetzt hätte ich noch ein
paar Fragen an Sie. Hatte Prunier den Film, mit dem er Sie erpreßte, selbst
gedreht?“
„Nein. Weder hat er mir je ein Foto noch den
Film gezeigt. Deshalb fragte ich mich so langsam, ob sie überhaupt noch
existierten. Wissen Sie, es wäre nichts Besonderes, wenn Film und Fotos
inzwischen verschwunden wären oder einem ,Sammler’ gehören, von dem ich nichts
zu befürchten hätte. Doch darauf bin ich erst später gekommen. Vorher hatte ich
diesem Dreckskerl beachtliche Summen gezahlt... Prunier!“ lachte sie, „der
Mann, der mich in die Siebte Kunst eingeführt hat!“
Ihr Heiterkeitsausbruch ging vorüber, und dann
wurde ich Zeuge eines seltsamen Phänomens. Man hätte meinen können, Rita
Cargelo gäbe ein Interview. Sie begann tatsächlich, mir ihr Leben zu erzählen.
Ich ließ sie erzählen.
So erfuhr ich, daß sie nach diesem
berühmt-berüchtigten Film (eine Ewigkeit sei das jetzt schon her!) sich so sehr
geschämt hatte, daß sie nach Italien floh, wo ein Bekannter von ihr wohnte.
Dort begann sie ein neues Leben, arbeitete wie verrückt, schaffte den Sprung
von kleinen zu großen Rollen und schließlich den in den internationalen
Starhimmel. Anscheinend gehörte sie jener Sorte von Schauspielern an, deren
ungeheures Talent sich erst dann entfaltet, wenn sie von einem ebenfalls
genialen Regisseur geleitet werden. Kurz, es folgten Filme in Rom, London und
Hollywood... nur nicht in Paris. Mit Paris verbanden sie quälende Erinnerungen.
Deswegen lehnte sie alle Angebote französischer
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