Im Sog der Angst

meinst, sie hat ihren Verdacht direkt dem Mörder gegenüber ausgesprochen? Wäre sie derart dumm, ihn damit zu konfrontieren?«
    »Falls er ihr Patient war, könnte sie das getan haben«, erwiderte ich. »Falls sie einen ihrer Patienten in Verdacht hatte, würde sie ungern die ärztliche Schweigepflicht verletzen und direkt zu dir kommen.«
    »Zurück zu der Theorie mit dem Irren im Wartezimmer.«
    »Es ist außerdem möglich, dass sie es nicht sicher wusste, sondern nur Verdacht geschöpft hatte. Deshalb besprach sie es mit ihm.«
    »Tollkühn«, sagte er.
    »Eine Therapie ist eine einseitige Beziehung. Trotz all dem Gerede von einer Partnerschaft ist der Patient bedürftig und abhängig, und der Therapeut hat die Weisheit gepachtet. Man überschätzt leicht seine persönliche Macht. Mary Lou war von Haus aus eine starke Persönlichkeit. Und sie wurde in den Medienzirkus verwickelt, überzeugte sich selbst davon, dass sie eine Expertin auf allen Gebieten war. Vielleicht wurde sie übertrieben selbstsicher und hatte das Gefühl, sie könnte ihn davon überzeugen, sich selbst zu stellen.«
    »Mann, das wäre ein Egotrip gewesen, wenn sie Erfolg gehabt hätte.«
    »Psychologin klärt Doppelmord auf«, sagte ich. »Das wäre ein PR-Coup gewesen.«
    Darüber dachte er lange nach. »Einer ihrer Patienten ist ein ganz schlimmer Finger.«
    »Kein gewaltsames Eindringen«, sagte ich. »Jemand, den sie kannte und ins Haus ließ. Das sollte man sich näher ansehen.«
    »Ich habe keinen Zugang zu ihren Patientenunterlagen.«
    »Ihre Partner wissen vielleicht etwas.«
    »Sie sind auch Seelenklempner, Alex. Für sie gilt ebenfalls die ärztliche Schweigepflicht.«
    »Ich kenne mich in juristischen Fragen nicht aus, aber falls der Mörder nicht offiziell ihr Patient ist, dürften sie vielleicht ganz allgemein von ihm sprechen.«
    »Klingt für mich nach einem Präjudiz«, sagte er. »Aber was soll’s, einen Versuch ist es wert.« Er rief die Auskunft an, ließ sich die Telefonnummern von Larsen und Gull geben und hinterließ Nachrichten, in denen er um Rückruf bat.
    »Wie läuft es mit den Fingerabdrücken aus Koppels Haus?«, fragte ich.
    »Es gibt derart viele, dass die Spezialisten mit mindestens einer Woche rechnen. Aber etwas haben sie mir schon gesagt: kein einziger Abdruck in der Nähe der Leiche. In einem Umkreis von mindestens drei Metern ist alles sauber gewischt worden. Ein Psychopatient, der extrem sorgfältig ist. Kein offenkundiger Spinner, nicht wahr?«
    »Nicht mal annähernd«, erwiderte ich.
    Er schlug die Mordakte auf, die für Mary Lou Koppel angelegt worden war. »Die Ballistiker haben heute Morgen einen Bericht gefaxt. Die 22er, mit der auf sie geschossen wurde, wies eine gewisse Ähnlichkeit mit den Pistolen auf, die bei Gavin Quick und Flora Newsome benutzt wurden, ist aber mit keiner der beiden identisch. Selbst wenn wir Flora außen vor lassen, haben wir zwei verschiedene Waffen für zwei Mordfälle. Das ist ein Mann, der leicht an billige Schießeisen rankommt und sich auf der Straße auskennt.«
    »Ein erfahrener Knastbruder«, sagte ich. »Einer, der Flora Newsome bei der Arbeit hätte begegnen können.«
    »Würde so ein Typ eine Therapie machen?«
    »Wenn er keine andere Wahl hätte. Denk an Gavin Quick.«
    Seine Augen weiteten sich. »Statt einer Gefängnisstrafe. Jemand, der sich einer Psychotherapie unterziehen musste . Das eröffnet mir eine Möglichkeit, wie ich um die gottverdammte Schweigepflicht rumkomme. Ich gehe die Gerichtsakten durch und stelle fest, ob irgendwelche Richter Koppel irgendwelche anderen Patienten zugewiesen haben.« Er sackte in sich zusammen. »Eine Riesenarbeit.«
    »Reduziere die Suche auf ein oder zwei Jahre und setz deine Arbeitsbiene darauf an.«
    »Das mache ich«, sagte er. »Das mache ich auf jeden Fall. Außerdem ist es Zeit, noch mal mit Mr. und Mrs. Quick über das Problem ihres Sohnes zu sprechen und herauszufinden, ob er noch jemanden belästigt hat. Bis jetzt bin ich nur bis zu ihrem Anrufbeantworter durchgedrungen. Ich hab den Bezirksstaatsanwalt, der die Anklage gegen Gavin vertreten hat, und seinen Verteidiger angerufen. Sie konnten mir leider überhaupt nicht helfen - für sie war es ein Fall unter vielen. Außerdem hab ich noch mal mit den beiden Freunden Gavins von dem Unfall gesprochen, und sie wussten nichts davon, dass er Beth Gallegos oder sonst jemandem nachgestiegen ist. In der Anamnese sprach Koppel davon, dass Gavins Obsession mit dem