Im Sommer der Sturme
Haus. Er presste einen großen braunen Umschlag an sich, der bei jedem Schritt gegen seine linke Hüfte schlug und seine Gedanken antrieb, die sich wie üblich im Kreis drehten: von der verfehlten Hochzeit seines Vaters, über seinen engen Zeitplan, den er auch noch zwischen Charmantes und Espoir aufteilen musste, das endlos lange Fernbleiben von George und den unterbrochenen Bau des neuen Hauses bis hin zum letzten und schlimmsten Punkt – zu seinem Bruder John und den fehlenden Frachtpapieren, die sich eigentlich bei den anderen Unterlagen im Umschlag befinden müssten.
»Warum tut er mir das an?«, schimpfte er lauthals. Wenn John ihn ärgerte, führte er in letzter Zeit mit Vorliebe Selbstgespräche. »Ich weiß, warum«, stieß er hervor, als er ins Arbeitszimmer stürmte und die Tür so heftig ins Schloss warf, dass die Glasfüllungen der Terrassentüren klirrten. »Er weiß genau, dass er damit auf Charmantes ein heilloses Durcheinander anrichtet und ich mich damit herumschlagen muss! Wetten, dass er sich schon seit Monaten amüsiert hat, wenn er daran dachte?«
Mit wenigen Schritten stand er am Schreibtisch und warf den Umschlag so schwungvoll zu den übrigen Papieren, dass die Seiten herausrutschten, was ihm für den Augenblick so etwas wie kindische Erleichterung verschaffte. Dann fuhr er herum und schrak zusammen, als er Charmaine mit großen Augen auf einem der hochlehnigen Stühle sitzen sah. »Wie lange sind Sie schon da?«, herrschte er sie an und wurde immer gereizter, als er überlegte, was sie alles gehört hatte. »Heraus mit der Sprache.«
»Schon eine ganze Weile, Sir«, antwortete Charmaine so verschüchtert, dass ihm sein Zorn mit einem Mal lächerlich vorkam.
Er schloss die Augen und rieb seine Stirn. Sir … sie hat wieder »Sir« gesagt . »Es tut mir leid, Charmaine. Ich wollte Sie nicht so anfahren, aber ich habe eine Menge Sorgen und bin am Ende meines Lateins.«
»Dann befinden wir uns ja beide in derselben Lage«, gab sie zurück.
Er hörte die Sorge, die in ihrer Stimme mitschwang. »Ist etwas geschehen?«
Ist etwas geschehen? , dachte sie. Das soll wohl ein Witz sein! Doch woher sollte er von den Schwierigkeiten wissen, mit denen sich die Angestellten des Herrenhauses konfrontiert sahen? »Im Lauf der nächsten Tage wird es einige Veränderungen im Haus geben«, sagte sie und sah auf die Hände in ihrem Schoß hinunter. »Einige davon machen mir Angst.«
»Welche Veränderungen könnten Ihnen schon Angst machen?«
»In einigen Minuten habe ich eine Unterredung mit Mrs. Duvoisin.«
Agatha … seine Stiefmutter … die neue Mrs. Duvoisin … Ihn ärgerte sehr viel mehr als nur dieser Titel. Er benötigte keine weiteren Erklärungen, um die Absichten dieser Frau zu durchschauen, und erst recht wollte er nichts über ihre verabscheuungswürdigen Taten hören.
Er ließ Travis Thornfield kommen und beauftragte ihn, die neue Herrin des Hauses davon zu unterrichten, dass ihre Unterredung mit der Gouvernante abgesagt sei. »Und falls sie sich beschwert«, fuhr Paul fort, »so verweisen Sie sie an mich. Miss Ryan ist für die Kinder verantwortlich, und es gibt keinen Grund, ihre Pflichten oder ihren Dienstplan zu ändern. Das ist alles, Travis.«
Der Butler entfernte sich mit einem höchst unüblichen Lächeln.
Charmaine war beeindruckt. Erneut hatte sich Paul auf ihre Seite gestellt. Wann glaubte sie denn endlich, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatte? Vielleicht heute , flüsterte ihr Herz und ließ ihre Knie weich werden. War es möglich, dass er mit einem Mal noch besser aussah als gewöhnlich? Als er den Raum durchquerte und von oben auf sie heruntersah, klopfte ihr Herz wie wild.
»Wunderbar.« Er grinste, dass die Zähne unter seinem Schnurrbart nur so blitzten. »Das wird ihr ganz und gar nicht passen, aber in Zukunft wird sie es sich vielleicht zweimal überlegen, bevor sie Ihre Position noch einmal in Frage stellt.«
Charmaine war sich dessen zwar nicht so sicher, aber sie war Paul natürlich dankbar. »Ich …«
»Aber, aber, Charmaine …«, tadelte er sie leise und setzte sich zu ihr. Dann beugte er sich vor und ergriff ihre Hand. »Vor Agatha müssen Sie wirklich keine Angst haben. Sie spielt sich gern als Herrin des Hauses auf, aber was Ihre Position angeht, so habe ich die Unterstützung meines Vaters. Ganz gleich, was Agatha sich auch einfallen lässt – er wird Sie niemals entlassen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Paul«, sagte sie leise. Seine Nähe
Weitere Kostenlose Bücher