Im Sommer der Sturme
ihrem Stuhl und wusste nicht recht, wie sie die Worte deuten sollte, bis Colette aufstand und mit einem herzlichen »Willkommen in der Familie Duvoisin« die Arme ausbreitete. Charmaine lachte, doch gleich darauf schlug sie ihre Hand vor den Mund. Dann stand sie auf und ließ sich in die Arme nehmen. Sie hatte die Stellung bekommen!
Beim anschließenden Tee kam auch die Höhe des Lohns zur Sprache, der in Charmaines Augen dem Lösegeld für einen König nahekam. Im Vergleich zu der Stelle bei den Harringtons würde sich ihr Einkommen fast verdreifachen. Das Geld würde monatlich bei der örtlichen Bank eingezahlt, wo sie ganz nach Belieben darüber verfügen konnte. Der Unterricht war zwar nur an den Wochentagen vorgesehen, dennoch benötigte man Charmaines Dienste an sieben Tagen in der Woche. Die Wochenenden durfte sie gestalten, wie auch immer es ihr gefiel, solange sie die Kinder einbezog. Für Zimmer, Unterhalt und Mahlzeiten würde nichts vom Lohn einbehalten, sodass sie nach einigen Jahren im Dienst der Duvoisins eine unabhängige Frau sein würde.
Auf der Rückfahrt war Charmaine nicht nur glücklich und erleichtert, sondern sie hatte auch das Gefühl, dass ihr neues Leben bereits begonnen hatte.
4
Montag, 19. September 1836
Früh am nächsten Morgen kam Charmaine im Herrenhaus an. Colette hatte darauf bestanden, dass sie am ersten Tag noch frei hatte, um sich in ihrem Zimmer im zweiten Stock einzurichten. Ihr Dienst als Gouvernante sollte erst am Dienstag beginnen. Loretta und Gwendolyn begleiteten sie, und als sie das große Foyer betraten, musste Charmaine mühsam an sich halten, um nicht zu kichern. Gwendolyns unzählige »Ahs« und »Ohs« waren schon schlimm genug.
»Es ist sehr hübsch, nicht wahr, Gwendolyn?«, flüsterte sie dem Mädchen zu, bevor Colette ihr das Hauspersonal vorstellte.
Als Erstes begrüßte Charmaine Mrs. Jane Faraday, die gestrenge Witwe und oberste Haushälterin. Ihr unterstan den die beiden Hausmädchen, Felicia Flemmings und Anna Smith, die kaum älter waren als Charmaine und für die Reinigung des Hauses, die Wäsche und den Dienst bei Tisch zuständig waren. Als Nächstes waren die Thornfields an der Reihe, und zwar Gladys und Travis und ihre beiden Kinder Millie und Joseph. Millie war so alt wie Gwendolyn, und Joseph war ungefähr zwölf. Sie versahen allerlei kleine Arbeiten im Haus und auf dem Grundstück, während ihre Eltern als persönliche Zofe und Diener der Besitzer fungierten. Wenn Travis einmal nicht als persönlicher Diener des Hausherrn Dienst tat, versah er die Rolle des Butlers. Im Gegensatz zur gestrengen Mrs. Faraday und ihren beiden Schützlingen schienen die Thornfields liebenswerte Leute zu sein. Doch Mrs. Fatima Henderson, die runde schwarze Köchin mit ihrer warmherzigen, lauten Art und ihrem verschmitzten Lachen, war von Beginn an Charmaines Favoritin.
Mit Travis’ und Josephs Hilfe wurden Charmaines Habseligkeiten über die Personaltreppe auf der Rückseite des Nordflügels in den zweiten Stock geschafft. Anschlie ßend verbrachte Charmaine den größten Teil des Vormittags mit Auspacken und gestaltete das schönste Zimmer, in dem sie jemals genächtigt hatte, nach ihrer Vorstellung um. Dabei standen ihr Loretta und Gwendolyn mit Rat und Tat zur Seite.
Kurz vor Mittag kam Millie, um sie zum Essen nach unten zu holen – aber nicht zur Dienerschaft in der Küche, sondern ins Speisezimmer der Familie. Der Raum lag im Nordflügel, gut vierzig Fuß in der Länge und der Breite, und zwar zwischen der großen Bibliothek und der Küche. Die beiden Längsseiten bestanden aus einer langen Reihe Glastüren, die sich auf der einen Seite auf die Rundumveranda des Hauses öffneten und auf der anderen auf den Innenhof zwischen den beiden Gebäudeflügeln. Wie in einem Kristallpalast fing der Raum die mittägliche Sonne ein und blendete die Augen. In der Mitte stand eine dunkelrot schimmernde Mahagonitafel mit vierzehn passenden Stühlen, an der jedoch mit Leichtigkeit auch die doppelte Zahl von Gästen Platz gefunden hätte. Trotzdem wirkte die Tafel im Gegensatz zu dem riesigen Raum fast klein. Drei Kronleuchter, deren Funkeln es durchaus mit den Glastüren aufnehmen konnte, rückten die Tafel ins rechte Licht. Vor der Wand, hinter der sich die Bibliothek verbarg, war eine Bar installiert, und die gegenüberliegende Wand schmückte eine Vitrine mit ausgesuchtem Porzellan.
Ein opulentes Mahl erwartete die Gäste. Auch die Kin der nahmen an der Mahlzeit
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