Im Sommer der Sturme
er schien sie gar nicht wahrzunehmen, sondern fixierte den Bankier mit eisernem Blick. »Heraus damit, Mann«, schnarrte er, als Mr. Westphal noch immer zögerte.
»Wenn ich das früher erfahren hätte …« Westphal wusste nicht recht, ob Paul wirklich die Wahrheit erfahren wollte. »… wäre ich natürlich eher zu Ihnen gekommen. Aber wie Sie ja wissen, hatten die Schiffe große Verspätung. Anne hat den Brief schon vor Wochen geschrieben.«
»Ja, ja, und weiter?«
Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf Westphals Oberlippe. »Ich bedauere, dass es ausgerechnet mir zufällt, Sie über die Fakten aufzuklären.« Er blickte auf. Colette schien ebenso wütend zu sein wie Paul. Nur Agatha lächelte selbstgefällig.
»Na los, Stephen, sagen Sie endlich, was Sie wissen«, sagte Mrs. Ward aufmunternd, während ihr Blick auf Charmaine ruhte. »Colette soll endlich erfahren, welche Person sie da eingestellt hat und in ihrem Heim beherbergt.«
»Na los, Stephen«, sagte Paul. »Sie haben uns neugierig gemacht. Also heraus mit der Sprache! Was hat Miss Ryan verbrochen, das unseren Kindern schaden könnte?«
»Es geht nicht darum, was sie getan hat. Es geht um ihren Vater.«
»Und?«
»Ihr Vater ist … ein Mörder.«
Tödliche Stille breitete sich aus, und Charmaines größte Ängste wurden wahr. Selbst die Geräusche in der Küche waren verstummt, als ob jeder das Ohr an die Tür presste. Die Wahrheit war heraus. Jetzt konnte Paul triumphieren, dass er von Beginn an recht gehabt hätte.
Sie weigerte sich, in seine Richtung zu schauen, und versuchte, sich der eisenharten Faust zu entwinden. »Bitte«, wimmerte sie, doch ohne Erfolg.
»Was genau wollen Sie damit sagen, Stephen?«
»Miss Ryans Vater ist ein Mörder«, wiederholte der Bankier. »Er hat ihre Mutter ermordet.«
»Haben Sie dafür Beweise?«
»Aber sicher«, bekräftigte Mr. Westphal und schöpfte neuen Mut, da Paul sehr interessiert schien. »Anne hat mit einem Hausmädchen der Harringtons gesprochen. Demnach hat sich John Ryan eines Abends Zugang zum Haus der Harringtons verschafft. Als Joshua Harrington ihm die Tür wies, kehrte er nach Hause zurück und ließ seine Wut an seiner Frau aus. Um Gewissheit zu erlangen, dass die Geschichte nicht erfunden war, wandte sich Anne an den Sheriff und erfuhr zu ihrem Entsetzen, dass John Ryan nicht nur ein Mörder war, sondern sich auch seit Wochen auf der Flucht befindet. Da die Ryans zum weißen Abschaum der Stadt zählten, war der Sheriff erleichtert, dass er die Sache nach der ersten Aufregung auf sich beruhen lassen konnte.«
»Und wie hat Mr. Ryan seine Frau getötet?«
»Er hat sie zu Tode geprügelt. Nach Angaben des Sheriffs waren solche Misshandlungen an der Tagesordnung. Diesmal jedoch war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Miss Ryan« – er deutete quer über den Tisch auf Charmaine – »hat das Opfer im Todeskampf gefunden. Als die Leiche kalt war, hat sie sich bei den Harringtons ausge weint, und diese haben den Sheriff verständigt. Sheriff Biggs hat Anne gegenüber ausdrücklich bedauert, dass er mit dieser traurigen Geschichte befasst wurde.«
In diesem Augenblick hatte Charmaine endgültig genug. Sie hatte sich von diesem Mann erniedrigen lassen, doch ihre Mutter durfte er nicht in den Schmutz ziehen. Mit blitzenden Augen sprang sie auf. »Diese ›Leiche‹, wie Sie sie bezeichnen, war meine Mutter ! Sie war eine gütige, liebevolle Frau, die ich geliebt und durch die Hand meines verfluchten Vaters verloren habe!« Trotz der Wut stiegen ihr die Tränen in die Augen, und ihr Schmerz war so übermächtig, dass sie die Worte nur mit Mühe herausbrachte. »Und ja«, zischte sie, »er hat sie geprügelt, hat sie immer wieder geprügelt. Und es war keiner da, der eingegriffen, der sich ihrer erbarmt und den Wahnsinnigen aufgehalten hätte! Nicht einmal, als sie sterbend am Boden lag! Wenn Joshua und Loretta Harrington nicht gewesen wären, hätte sich niemand darum geschert! Mr. Harrington musste den Sheriff förmlich anflehen, aber nichts ist geschehen! Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen, und mein Vater läuft noch immer frei herum. Er wird niemals für seine heimtückische Tat bezahlen müssen. Verachten Sie mich, solange Sie wollen, ich sage Ihnen nur eines: Keiner hasst John Ryan mehr als ich, und keiner sehnt sich mehr nach Gerechtigkeit als ich. Aber Gerechtigkeit wird es niemals geben, nicht wahr?« Die rhetorische Frage hallte durch den Raum.
Paul empfand große Sympathie für
Weitere Kostenlose Bücher