Im Sommer der Sturme
Charmaine. Deshalb also war sie stets auf der Hut . Ihr Vater hatte ihr nie einen Grund gegeben, Männer zu lieben. Paul hätte sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet. Und sie vor dem bewahrt, was sie erlitten hatte.
»Nein, Gerechtigkeit gibt es nicht«, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Aber es gibt einen Grund dafür, dass mein Vater noch immer frei herumläuft. Und das sind Menschen wie Sie, Mr. Westphal, die lieber Unschuldige verleumden, als die Schuldigen zu verfolgen.« Sie wandte sich an Paul. »Na los, bestrafen Sie das arme Opfer. Ich bin hier. Worauf warten Sie?«, fuhr sie ihn an und versuchte, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien. »Wenn Sie mich losließen, könnte ich endlich gehen. Ich lasse mich nicht weiter demütigen!«
Wütend stand George auf, weil die Inquisition lange genug gedauert hatte. »Sie sind viel zu höflich, Charmaine«, rief er mit Blick auf ihr Handgelenk. »Hier stinkt es so gewaltig, dass mir der Appetit vergangen ist.« Er schob seinen Stuhl zurück, legte den Arm tröstend um Charmaines Schultern und sah Paul finster an, falls er sie auch noch einen Augenblick länger festhalten wollte.
Paul gab nach und löste seinen Griff. Charmaine ließ sich von George aus dem Zimmer führen, doch als sie das Foyer erreichten, brach sie zusammen und weinte. »Sie sollten wieder hineingehen«, schluchzte sie. »Sonst sind die anderen genauso wütend auf Sie wie auf mich.«
George schnaubte verächtlich. »Das ist mir völlig gleichgültig.«
»Ich war so glücklich in diesem Haus. Jetzt weiß ich nicht, wohin ich gehen soll.«
»Was soll denn das heißen? Sie glauben doch wohl nicht, dass Colette Sie auf solchen Tratsch hin entlässt! Da verkennen Sie ihre Aufrichtigkeit aber gewaltig.«
Charmaine sah ihn an, und allmählich versiegten ihre Tränen.
»Colette liebt Sie, Charmaine. Und die Kinder lieben Sie auch! Selbst Paul … Wetten, dass er denen gerade sagt, wohin sie sich verziehen sollen, wenn Sie wissen, was ich meine?«
»Aber warum hat er mich dann gezwungen, mir das alles anzuhören? Wie ein Tier in der Falle?«
»Er wollte, dass Sie den Leuten gegenübertreten, und zwar mit hoch erhobenem Kopf! Paul hat sich Zeit seines Lebens auf Grund seiner illegitimen Geburt solches Gerede anhören müssen. Dabei hat er gelernt, dass man dem Gegner nie den Rücken zudrehen darf. Weglaufen bekräftigt jedes Gerücht – ganz gleich, ob es wahr ist oder nicht.«
Charmaine begriff, dass George damit recht hatte. So gesehen, hatte sie Paul Unrecht getan.
»Wir alle haben unsere kleinen Geheimnisse, die wir am liebsten verstecken. Dinge, auf die wir nicht unbedingt stolz sind. Meine Mutter ist zum Beispiel mit einem Matrosen durchgebrannt, als ich ein Jahr alt war, und hat meinem Vater das Herz gebrochen. Zum Glück hatte ich meine Großmutter Rose.«
Mit zärtlichem Blick sah Charmaine den Mann an, der ihr zum Trost sogar die eigene schmerzvolle Vergangenheit offenbarte. »Vielen Dank, George«, flüsterte sie.
»Verraten Sie mich bloß nicht.« Er lächelte und dachte, wie hübsch sie doch aussah. Wenn Paul nicht so verdammt besitzergreifend wäre, würde er Charmaine sofort den Hof machen.
Sie seufzte tief. »Ich muss unbedingt nach den Kindern sehen.«
George nickte, und sie lief zur Treppe und hinauf ins Kinderzimmer.
Die Unterstellungen wurden immer abenteuerlicher – bis hin zu John Ryans Blut, das auch in Charmaines Adern kreiste und sich eines Tages mit tödlicher Konsequenz in Erinnerung bringen würde.
»Ich habe genug gehört«, zischte Paul drohend.
»Ich auch.« Colette warf ihre Serviette auf den Tisch und stand auf. »Ich möchte meinen Kindern wenigstens noch einen Gutenachtkuss geben, bevor sie einschlafen.« Sie wandte sich ab, aber gleich darauf hielt sie noch einmal inne. »Außerdem muss ich mit Miss Ryan sprechen. Trotz aller Unterstellungen bleibt sie auch weiterhin die Gouvernante meiner Kinder.«
Stephen Westphal, der sich gleichzeitig mit Colette erhoben hatte, setzte zu einer Entschuldigung an. »Ich hatte doch nur das Wohl der Kinder im Auge, Madame …«
»Mr. Westphal«, begann Colette, die diese Ausrede nicht mehr hören konnte, »wenn Sie irgendjemandes Interesse im Auge gehabt hätten, so hätten Sie die Sache unter vier Augen mit mir besprochen und sie nicht während des Essens breitgetreten. Was Sie Miss Ryan zugemutet haben, war mehr als abstoßend.« Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ sie den Raum.
Hilfesuchend
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