Im Sturm der Gefuehle
Aufmerksamkeit, und sie fragte mit einem Blick zu ihrer Schwester: »Ist das die Schatulle, die Mutter dir gab?«
Sophy nickte mit traurigem Lächeln. »Ja, das ist sie. Du kannst sie dir gern ansehen.«
Phoebe fasste ganz vorsichtig nach der Schatulle - und ließ sie prompt fallen. Ein glitzerndes Durcheinander von Armbändern, Ringen und Nadeln landete auf dem Boden.
»Ach, das tut mir Leid, Sophy Sie ist mir entglitten.«
»Macht nichts«, gab Sophy zurück, als sie und Anne sich daranmachten, Phoebe beim Einsammeln zu helfen. »Außerdem ist nichts wirklich Kostbares dabei.«
In kürzester Zeit war alles wieder in Ordnung, und Phoebe wollte die Schatulle wieder an ihren Platz stellen, als Anne ausrief: »Ach, warte, unter dem Stuhl sehe ich etwas blitzen.«
Sie durchquerte den Raum, bückte sich und hob das Stück auf. Als sie es gegen das Licht hielt, stieß sie hervor: »Lady Marlowe, sagen Sie bloß nicht, dass dies unecht ist! Das ist der herrlichste Rubin, den ich je gesehen habe. Er muss echt sein.«
Sophy erbleichte, als ihr Blick auf die glitzernde Krawattennadel mit dem Rubin in Annes Hand fiel. All die hässlichen Erinnerungen an die Nacht von Simons Tod überfielen sie von neuem: der Kampf mit Simon, die Blitze, die Donnerschläge und die halb wahrgenommene, halb eingebildete Gestalt eines Mannes, der sich am oberen Ende der Treppe an die Wand drückte. Während sie die schrecklichen Momente, als sie Simons Leichnam reglos auf dem Boden am Fuß der Treppe liegen sah, wieder durchlebte, achtete sie weder auf die Sekunden, die vergingen, noch auf ihren Gesichtsausdruck.
»Sophy!«, rief Phoebe beunruhigt. »Geht es dir gut?«
Sophy gab sich einen Ruck und zwang sich zu einem matten Lächeln. »Verzeih. Ich weiß nicht, was mich überkam. Und um Annes Frage zu beanworten, ich habe keine Ahnung, ob der Stein echt ist oder nicht. Ich fand ihn auf Marlowe House. Und ich hatte ganz vergessen, dass ich ihn besaß.«
»Vergessen!«, rief Phoebe aus. »Wie konntest du nur?«
Sophy zuckte mit den Schultern. »Unmittelbar nach Simons Tod hatte ich anderes im Kopf. Deshalb tat ich die Nadel einfach in die Schmuckschatulle und dachte nicht mehr daran. Sie muss unter den übrigen Schmuck geraten sein, ohne dass es mir auffiel, da ich selten etwas aus dieser Schatulle trage.«
»Sie haben sie gefunden?«, fragte Anne. »Wenn der Stein nicht echt ist, dann ist er ein sehr gutes Duplikat. Man möchte meinen, der Besitzer würde sie vermissen und suchen. Hat denn nie jemand danach gefragt?«
»Nein«, sagte Sophy leise. Ihr wurde beunruhigend klar, dass Anne Recht hatte. Sie nahm die Nadel aus Annes Hand entgegen und betrachtete sie eingehend. Als sie den Rubin gegen den Kristalllüster hielt, blitzte und funkelte er mit tiefer blutroter Glut. Ein künstlicher Stein besaß doch nicht so viel Intensität? Und wenn er echt war, warum hatte dann nie jemand erwähnt, dass er ihn vermisste?
Lange nachdem die Mädchen zu Bett gegangen waren, saß Sophy noch da und starrte die Rubinnadel an. Gleich am Morgen wollte sie das Stück zu einem Juwelier bringen und es prüfen lassen. Vielleicht wurde damit wenigstens eine Frage aus der Welt geschafft.
Ohne zu wissen warum, sprach sie mit niemandem von ihrer Absicht. Am nächsten Morgen verließ sie zeitig das Haus und ließ sich von ihrem Kutscher zu ihrem eleganten Juwelier am Ludgate Hill bringen. Er bestätigte ihre Vermutung, dass es sich um einen echten Stein handelte. Die Nadel sei einzigartig und ein kleines Vermögen wert, wie er ihr versicherte. Sophy bedankte sich und verließ eilig den Laden.
In ihren Gemächern angekommen, holte sie die Nadel wieder aus ihrem Ridikül. Niemand würde ein solches Stück einfach übersehen oder vergessen. Es sei denn, es gab einen bestimmten Grund. Aber welchen Grund?, fragte Sophy sich ratlos. Wenn die Nadel verloren worden war, was war einfacher als zu fragen, ob jemand sie gefunden hatte? Es sei denn, dachte sie fröstelnd, der Verlust war mit Umständen verknüpft, die man lieber im Dunkeln ließ.
Sie schluckte. Hatte der Fundort etwas damit zu tun, dass der Verlust unerwähnt geblieben war? Wieder dachte sie an die schemenhafte Gestalt und an den Rubin, der wie ein Blutstropfen am oberen Ende der Treppe gefunkelt hatte - jener Treppe, an deren Fuß ihr Mann tot gelegen hatte. Wieder schluckte sie und sagte sich, dass sie albern war und eine blühende Fantasie besaß. Wahrscheinlich gibt es einen völlig logischen
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