Im Tal der flammenden Sonne - Roman
umher, die Sandkörner waren scharf wie Nadelspitzen. Er stolperte und stürzte in ein dichtes Gestrüpp, und die Dornen rissen ihm Beine, Arme und Hände auf, doch er spürte den Schmerz kaum. Obwohl er mit seinen Kräften am Ende war, kämpfte er sich weiter voran.
Irgendwann aber brach Ernie zusammen; er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erheben. Das Letzte, was er hörte, bevor er hinüberdämmerte, waren seine Ahnen, die ihn zu sich riefen.
Stuart Thompson wurde vom Summen der Fliegen geweckt. Als er aus seinem Zelt kriechen wollte, musste er zuerst den Sand, den der Wind davor angehäuft hatte, mit den Händen beiseiteschaufeln. Dann sah er, dass die Kamele fort waren. Nur die Stricke, mit denen er die Tiere angebunden hatte, waren noch da. Offenbar hatte er sie nicht richtig verknotet. Stuart richtete sich auf und blickte sich suchend um, konnte die Tiere aber nirgends entdecken. Die Sonne schien von einem blauen Himmel, und die Luft war heiß und unbewegt. Stuart beschloss, erst einmal Brennholz für ein Feuer zu suchen. Er wollte gar nicht daran denken, was ihm blühte, wenn die Kamele nicht zurückkämen.
Stuart hatte bereits einen Arm voll Holz gesammelt, als er den halb vom Sand zugewehten Körper eines Aborigine entdeckte. Er ließ das Holz fallen und kniete neben dem Mann nieder. Stuart war überzeugt, dass er tot war. Vorsichtig nahm er ihm die Kopfbedeckung ab. Anscheinend hatte der Aborigine versucht, damit Mund, Nase und Augen vor dem Sandsturm zu schützen.
Plötzlich stöhnte der Aborigine auf. Stuart fuhr erschrocken zurück.
»Herr im Himmel, du lebst ja noch!«
Sofort erkannte Stuart, dass er in einer Zwickmühle steckte. Natürlich musste er dem Mann helfen – ihn zu seinem Lager bringen, ihm zu essen und vor allem zu trinken geben. Und der Mann würde sich zweifellos wundern, was er, ein Weißer, allein hier draußen machte, und Fragen stellen. Wenn der Aborigine von dem Goldgräber gehört hatte, der sich in Marree aufhielt – würde er da nicht zwei und zwei zusammenzählen?
Eine Sekunde lang erwog Stuart, den Eingeborenen seinem Schicksal zu überlassen, damit die Lage seines Goldvorkommens sein Geheimnis blieb. Doch als er den zu Tode erschöpften Mann ansah, überkamen ihn heftige Schuldgefühle. Wie konnte er so kaltblütig sein? Wie konnte er an sein Gold denken, wo es um ein Menschenleben ging?
»Ich heiße Stuart. Und wie heißt du?«
»Ernie … Ernie Mandawauy.«
»Komm, ich bring dich zu meinem Lager, du brauchst Wasser«, sagte er und griff Ernie unter die Achseln, um ihm auf die Füße zu helfen.
Ernies Mund war so ausgetrocknet, dass er keinen weiteren Laut hervorbrachte. Er versuchte, die Arme zu heben und sich an dem Weißen festzuhalten, doch dieser musste ihn fast tragen, so schwach war er.
Stuart ließ den Aborigine im Schatten seines Zeltes zu Boden gleiten und reichte ihm seine Wasserflasche.
»Nicht so hastig«, mahnte er, als Ernie gierig trank. Es kam dem Aborigine so vor, als hätte er nie etwas Köstlicheres zu sich genommen. Er setzte die Flasche erst ab, als sie leer war. Sein Kopf hämmerte, aber wenigstens war sein Durst gestillt und Mund und Kehle nicht mehr pulvertrocken.
»Was hast du hier draußen gemacht, Ernie, ganz allein und ohne Wasser?«
Jetzt erst erkannte Ernie seinen Retter. Die Ironie der Situation entging ihm nicht: Nicht er hatte Stuart, sondern dieser hatte ihn gefunden.
»Ich bin auf walkabout «, log Ernie. »Normalerweise kann ich überall in der Wüste Wasser finden, aber dann zog der Sandsturm auf.« Schaudernd erinnerte er sich an die Stimmen seiner Ahnen, die zu ihm gesprochen hatten. Was hatte das zu bedeuten?
»Hab ich dich nicht schon mal in Marree gesehen?« Stuart musterte Ernie. Er war sicher, den Mann dort schon gesehen zu haben.
»Ich gehe häufig auf walkabout «, antwortete Ernie ausweichend.
»Hier draußen gibt’s doch nichts. Wohin wolltest du denn?«
»Zu einer heiligen Stätte, wo meine Leute ein corroborree abhalten … aber dann hab ich im Sandsturm die Orientierung verloren. Viele Stammesangehörige sind unterwegs, um an der Zeremonie teilzunehmen.« Ernie war nicht ganz wohl in seiner Haut, weil er seinen Lebensretter belog. Aber mehr noch fürchtete er Wallys Zorn, wenn dieser erfuhr, dass er ihn hintergangen hatte.
Stuart betrachtete Ernie nachdenklich. Wie hatte er auch nur eine Sekunde lang erwägen können, diesen Mann seinem Schicksal zu überlassen? Was war bloß in ihn gefahren?
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