Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
bin ich sofort umso tiefer in jenen 23. August eingetaucht, schon allein um mich für meine Glücksgefühle zu bestrafen. Und das möchte ich nicht mehr. Ich habe sehr, sehr viel nachgedacht in den letzten beiden Wochen, Jenna. Und ich will ein neues Leben beginnen. Vielleicht vor allem deshalb, weil ich jetzt etwas zu verlieren habe.«
Wir sahen einander an.
»Jetzt habe ich dich zu verlieren«, sagte Matthew leise. Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: »Zumindest hoffe ich, dass ich dich nicht bereits verloren habe?«
Mir schwirrte der Kopf. Es wäre so leicht gewesen, ihm einfach in die Arme zu fallen. Es war auch nicht so, dass ich ihm nicht jedes einzelne Wort, das er sagte, geglaubt hätte. Ich hatte nur Angst, dass er es nicht schaffen konnte. Dass er sich zu viel vornahm, dass er scheitern würde und dass alles von vorn losginge.
»Gib mir eine Chance«, bat er. »Ich habe auch schon ein paar Dinge getan, die für mich bislang völlig ausgeschlossen gewesen wären. Ich habe Vanessas sämtliche Kleidungsstücke zusammengepackt und zum Roten Kreuz gebracht. Ich habe die meisten ihrer persönlichen Habseligkeiten in Kartons verstaut und auf den Dachboden geräumt. Ich würde dich gern zu mir nach Hause einladen, und du sollst dort nicht bei jedem Schritt über Vanessa stolpern. Und ich will das auch nicht mehr.«
»Du hast ihre Sachen fortgebracht?«, fragte ich ungläubig. Dies schien mir tatsächlich ein Quantensprung zu sein.
»Ja. Warum soll ich etwas aufheben für eine Frau, die nicht mehr wiederkommen wird?«
Dem Matthew, den ich kennengelernt hatte, wäre ein solcher Satz nie über die Lippen gekommen. Und niemand hätte in seiner Gegenwart gewagt, eine solche Ungeheuerlichkeit auch nur anzudeuten.
»Weißt du«, fuhr er fort, »es ist nicht so, dass ich Vanessa aus meinem Herzen streiche. Sie wird dort immer einen Platz haben. Ich habe sie sehr geliebt, und wir sind auf eine furchtbare Art getrennt worden. Aber es ist nun einmal so: Wir sind getrennt. Seit bald drei Jahren. Ich muss den Tatsachen ins Auge sehen.« Er holte tief Luft, schien sich selbst innerlich zu wappnen für das, was er nun sagen würde. »Entweder ist Vanessa das Opfer eines Verbrechens geworden, und dann ist sie mit einer sehr, sehr hohen Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben. Das ist es auch, was die Polizei schon seit Langem glaubt. Oder sie ist aus eigenem Entschluss fortgegangen. In diesem Fall will sie ganz offensichtlich nichts mehr mit mir zu tun haben und möchte auch nicht, dass ich jemals wieder in Kontakt mit ihr trete. Mir ist schleierhaft, warum sie das getan haben sollte, aber nachdem ich drei Jahre lang auf diese Frage keine Antwort gefunden habe, werde ich auch keine finden, wenn ich weitere zehn Jahre darüber nachgrübele. Die Fakten sind, wie sie sind: Sie ist fort. Damit muss ich leben. Leben, nicht leiden.«
»Du bist ein großes Stück gegangen, seitdem ich dich zuletzt gesehen habe«, sagte ich vorsichtig. »Seitdem wir …«
Ich sprach den Satz nicht zu Ende, aber Matthew wusste, was ich hatte sagen wollen. »Seitdem wir zusammen dort waren, ja. An dem Ort, an dem sie verschwunden ist. Ich glaube, ich habe an jenem Tag schon begonnen, Abschied zu nehmen.«
Es war ein Risiko. Aber ich hatte plötzlich das fast sichere Gefühl, dass ich es eingehen würde.
»Max wartet unten im Auto«, sagte Matthew. »Wie ist es, magst du mit uns ein Stück spazieren gehen? Es regnet, und du bist erkältet, aber …«
Meinen Schnupfen hatte ich fast schon vergessen. Und meine Regenjacke hing griffbereit an der Garderobe neben der Wohnungstür. Hatte ich nicht selbst schon über einen Spaziergang nachgedacht, um wenigstens einmal an diesem Tag noch meine Nase aus diesen vier Wänden herauszustrecken? Nicht im Traum hätte ich geglaubt, es könnte am Ende ein Spaziergang mit Matthew und Max werden.
»Natürlich komme ich mit«, sagte ich sofort. »Nichts hilft so gut gegen eine Erkältung wie ein Marsch durch den Regen!«
Matthew lächelte. »Und darf ich dich für morgen Mittag z u mir einladen? Wir könnten zusammen kochen, und du könntest endlich sehen, wie und wo ich lebe.«
Ich würde das Haus betreten, in dem er mit Vanessa gewohnt hatte. Das Haus, das er von ihrer anhaltenden Präsenz zu befreien versucht hatte. Mich machte die Vorstellung nervös, ihr, Vanessa, dem Phantom, so nahe zu kommen, aber Matthew hatte so viel getan, unserer sich anbahnenden Beziehung den Weg zu ebnen, dass ich nun
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