Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
Gelegenheit, die Farm zu verlassen und ein wenig Abstand von Thomas zu gewinnen. Die Aussicht auf Freiheit ließ Johanna aufatmen. Sie ließ das Schriftstück für einen Moment sinken. Draußen rauschte der Regen, im Haus war es still. Hariata werkelte in der Küche, im Obergeschoss hörte sie die leisen Stimmen der Männer.
Johanna las weiter. Zuerst wurde ihr der Sinn der Worte nicht ganz klar. Anthony Chester erwähnte einen gemeinsamen Freund von ihm und dem Afrikaforscher MacDougal, dem sie auf der Völkerschau begegnet war. Konnte es sein, dass er Liam meinte? Natürlich, wen sonst! Sie hatte ihn dort kennengelernt, und ihr Vater hatte sich wohl insgeheim gewünscht, sie wäre mit ihm glücklich geworden und hätte nicht Thomas Waters heiraten müssen.
Kein Zweifel, es ging um Liam. Er war in Neuseeland! Und ihr Vater hatte seine Nachricht so verschlüsselt, dass Thomas nicht wissen würde, von wem die Rede war. Ihr Ehemann wusste weder von der Völkerschau noch von MacDougal.
Johanna glaubte, ihr Herz würde ihr aus der Brust springen. Warum tat Liam so etwas? Machte er sich womöglich noch Hoffnungen?
Johanna bemerkte die Tränen erst, als sie auf das Briefpapier tropften und die Tintenworte zu grauen Flecken zerschmolzen. Heiß und wütend rannen sie über ihre Wangen, und sie wischte sie hastig fort.
Es konnte nicht sein, dass er wegen ihr gekommen war, versuchte sie sich zu überzeugen. Er war Offizier der Krone, in Neuseeland herrschte Aufruhr, und sie hatten ihn mit vielen anderen hergeschickt, um den Siedlern beizustehen. Genauso war es und nicht anders!
In diesem Moment erklangen Schritte, und die Männer kehrten zurück. Johanna faltete den Brief zusammen und atmete tief durch, doch sie konnte ihre Tränen nicht verbergen. Thomas war ein aufmerksamer Beobachter. Wenngleich er sich nicht unbedingt nach ihren Wünschen und Hoffnungen richtete, so studierte er die Gefühle seiner Frau doch penibel.
Johanna erhob sich schnell und begegnete seinem bohrenden Blick.
» Ist in London alles in Ordnung? Hast du schlechte Nachrichten bekommen? « , fragte Thomas mit ehrlichem Mitgefühl und strich ihr über den Arm.
Sie schüttelte den Kopf und wich seiner Berührung aus.
» Nein, nein, es geht ihnen gut. Ich vermisse meine Eltern, das ist alles. «
Thomas legte ihr den Arm um die Schulter, und sie erduldete für einen kurzen Moment seine tröstende Wärme. Dann lächelte sie Father Blake an und lud ihn mit einer Geste ein, am Esstisch Platz zu nehmen.
Hariata servierte ein Stew mit zartem Lammfleisch, das dem alten Missionar für den Rest des Abends ein breites Lächeln aufs Gesicht zauberte. Scherzhaft bat er sie, nach Urupuia zurückzukehren, doch selbst Thomas hielt dagegen. So eine gute Köchin würde er nicht mehr bekommen.
Father Blake blieb ganze zwei Tage, und Johanna genoss jeden einzelnen Moment. Der Missionar erinnerte sie so sehr an ihren Vater, dass sie manchmal ein zweites Mal hinsehen musste, um sich zu versichern, dass es nicht Anthony Chester war.
Thomas wich sofort aus, sobald Father Blake die Unterhaltung vorsichtig auf den Zwist mit den Maori lenkte, bis dieser sich geschlagen gab.
Johanna nutzte die Gelegenheit, um mutiger auf ihren Mann zuzugehen, der ihr durch die Anwesenheit ihres Gastes mehr Aufmerksamkeit schenkte als sonst.
Nach einigem Zögern hatte sie ihm den Brief ihres Vaters zu lesen gegeben. Die Idee einer zusätzlichen Geldeinnahmequelle gefiel ihm durchaus, besonders da der Bau des neuen Hauses mehr Kapital und Holz verschlang, als Thomas geplant hatte. Die Maori-Arbeiter waren fort, seitdem er den heiligen Baum gefällt hatte. Die überwinternden Walfänger ließen sich ihre Arbeitskraft teuer bezahlen, und neue Siedler waren durch die beständig aufflackernden Unruhen ausgeblieben.
So stimmte Thomas schließlich zu, dass Johanna, sobald das Wetter besser und die schlammigen Wege getrocknet waren, gemeinsam mit Father Blake und einem Mann zur Bewachung durch die Dörfer reisen durfte, um geeignete Artefakte zu finden.
Wie oft Thomas dem Alten das Versprechen abnahm, dass Johanna keine Gefahr drohe, konnte sie kaum zählen.
Das Loch in ihrer Seele, das der Verlust des Kindes gerissen hatte und das wie ein frisches Brandmal schmerzte, war in den vergangenen Tagen ein wenig kleiner geworden.
Als sie das erste Mal wieder lächeln konnte, war Johanna das wie ein Verrat vorgekommen. Und doch, der Brief ihres Vaters war wie das dringend benötigte
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