Im Taumel der Herzen - Roman
einem Kopfnicken zu Ohr hinüberblickte und sagte: »Ich dachte mir schon, dass du vielleicht Verständnis haben könntest. Nicht jede Kultur impft bereits den Kleinkindern ein, die Eltern zu ehren und ihren Willen über alles zu stellen. Was nicht heißen soll, dass ich meinen Vater nicht lieben und ehren würde, wenn ich einen hätte, der es wert wäre, geliebt und geehrt zu werden. Einen solchen Vater aber habe ich nicht. Dennoch werde ich erst von hier abreisen, wenn ich all meine alten Bindungen an diesen Ort für immer durchtrennt habe, und das
kann ich erst, nachdem ich meinen Bruder ein letztes Mal wiedergesehen habe.«
»Den Bruder, den du vor Jahren einmal erwähnt hast, als du so betrunken warst, dass du nicht mehr stehen konntest?«
»Ich habe dir von ihm erzählt? Warum hast du das nie gesagt? «
Ohr zuckte mit den Achseln. »Mir war klar, dass du nicht über ihn reden wolltest. Sonst hättest du es bestimmt öfter getan – und nicht nur, als du so betrunken warst, dass du dich hinterher an kein einziges Wort mehr erinnern konntest.«
»Dass du so wenig neugierig bist, erstaunt mich immer wieder, mein Freund.«
»Man nennt das Geduld. Wenn ich etwas wissen soll, erfahre ich es am Ende schon.«
Richard lachte. »Mit dieser Einstellung entgeht dir aber eine ganze Menge.«
»Möchtest du, dass ich dir helfe, deinen Bruder aufzuspüren? «
Richards erster Impuls war, Ohrs Angebot abzulehnen. Im Grunde wollte er nicht, dass sein Freund erfuhr, welch erbärmliches Leben er einmal geführt hatte. Andererseits durfte er selbst sich auf keinen Fall in die Nähe von Willow Woods wagen. Offenbar hatte die Zeit sein Aussehen doch nicht so sehr verändert, wie er gehofft hatte. Seine Statur mochte sich noch drastisch gewandelt haben, aber für sein Gesicht galt das offenbar nicht, auch wenn inzwischen neun oder in Julias Fall sogar elf Jahre vergangen waren. Julia hatte ihn trotzdem wiedererkannt oder zumindest genug Ähnlichkeit entdeckt, um ihn mit ihren Fragen zu löchern – woraufhin er seinerseits begriffen hatte, wer sie war.
Lieber Gott, damit hatte er einfach nicht gerechnet! Sie besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit der mageren kleinen Wilden, die ihn so oft gequält hatte, als sie noch Kinder gewesen
waren. Er konnte nicht einmal sagen, welche Farbe ihre Augen damals gehabt hatten, weil sie sie vor lauter Wut stets zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. Ihr Haar jedoch war viel heller gewesen, fast weiß, während es inzwischen eher aschblond wirkte. Wer hätte gedacht, dass sie sich einmal zu einer so hübschen jungen Frau entwickeln würde! Trotzdem wusste er, dass der bösartige kleine Drachen immer noch in ihr steckte. Nicht umsonst war sie so wütend geworden, nachdem sie erraten hatte, wer er war.
»Ich weiß, wo ich Charles finde«, entgegnete Richard, »zumindest gehe ich davon aus, dass er und seine Frau Candice immer noch bei meinem Vater in Willow Woods leben. Wobei ich mich selbst auf keinen Fall in die Nähe dieses Ortes wagen darf, weil ich sonst riskiere, auch wieder in den Schoß der Familie zurückgeschleppt zu werden.«
»Du bist also nicht der Meinung, gegenüber deinem Vater oder diesem Mädchen Verpflichtungen zu haben?«
»Nein, weder das eine noch das andere. Allerdings könnte ich tatsächlich deine Hilfe gebrauchen.«
Ohr nickte und begann seinerseits zu packen, ohne weiter nachzuhaken, welche Folgen Richard befürchtete, falls sein Vater ihn fände. Es war wirklich erstaunlich, wie gut dieser Mann sich im Griff hatte.
Richard beschloss, ihm dennoch ein wenig von seinem Leben zu erzählen. »Es ist eine komplizierte Geschichte, Ohr. Auch wenn ich inzwischen mein eigener Herr bin, wird mein Vater das nie anerkennen. Er wendet … harte Methoden an, um seinen Willen durchzusetzen, notfalls auch mithilfe der Schlägertypen, die für ihn arbeiten. Er ist Milton Allen, der Graf von Manford.«
»Demnach bist du genauso adelig wie die Malorys?«
»Ja, allerdings bin ich der Zweitgeborene, weshalb ich den Titel nicht erben werde. Mein Vater ist zwar nicht gerade arm,
aber auch keineswegs reich. Von einem Vermögen zu sprechen, wäre stark übertrieben. Tyrannisch und herzlos, wie mein Vater ist, hat er daher beschlossen, seine Söhne zu verschachern, um seine Umstände zu verbessern.«
»Es ist gar nicht so ungewöhnlich, wenn ein Vater seine Rücklagen ein wenig aufstockt, indem er seine Kinder gut verheiratet.«
»Zugegeben, aber heutzutage ziehen die meisten
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