Im Tempel des Regengottes
Angst.
»Ja'much! Antaj.« Er selbst war am meisten überrascht, als er sich die fremden Laute sprechen hörte. Noch eine Sekunde zuvor hatte er nicht einmal gewußt, daß er dieses Wort überhaupt kannte: Antaj. Hilf.
Der alte Priester sah ihn einen Moment lang aufmerksam an, dann trat er neben Stephen, der noch immer mit bebenden Schultern im Gras kniete. Er machte eine schroffe Geste, und Robert verstand: Stephen sollte seinen Platz räumen.
Zusammen mit Mabo zog er Stephen in die Höhe und führte ihn einige Schritte beiseite. Der Mestize hatte inzwischen die Pferde zusammengetrieben, das Packtier von seinen Lasten befreit und diese am Waldrand aufgestapelt. Die Morgensonne stand hinter den Bäumen und warf ein Gewirr von Lichtstrahlen über den weiten Platz, der so heiter und friedlich wirkte wie der Vorgarten des Paradieses.
Stephen ließ sich auf seinen Seesack fallen, neben Miriam, die auf einem gewaltigen Koffer thronte, mit unbeteiligter Miene, als ob Pauls Todeskampf sie wenig anginge. Robert wandte sich gleich wieder um und eilte zu Paul zurück, doch in den Augenwinkeln fing er noch einen Blick von Miriam auf, der ihn neuerlich in Verwirrung stürzte. Warum verfolgte sie ihn regelrecht mit ihren bewundernden Blicken? dachte er - und das gerade jetzt, da er abstoßender denn je aussehen mußte, eine hagere, wirrbärtige Gestalt, nackt bis auf den rot besprengten Schurz und am ganzen Leib besudelt.
Als er wieder bei Paul war, kauerte Ja' much schon neben dem Liegenden im Gras, an genau der gleichen Stelle, wo eben Stephen gekniet war, und gleichfalls leise murmelnd. Aber was der alte Priester von sich gab, war kein verzweifeltes Stammeln, sehr viel eher klang es, als raune Ja'much Beschwörungen, heilkräftige Zaubersprüche nach urtümlichem Brauch. Mabo saß zu Pauls Füßen, die Hände gefaltet und bis vor sein Gesicht erhoben, wie Betende auf alten Gemälden. Aber alles Zaubern und Beten würde vergebens sein, dachte Robert, und der Atem stockte ihm, als er in Pauls Gesicht sah. Das Antlitz eines Sterbenden, durchfuhr es ihn, nein, ärger noch: So aufgedunsen, wie Paul aussah, die Augen hervorgequollen, Stirn und Wangen eine formlose graue Masse, erinnerte er an die gräßlich hergerichteten Gesichter der Leichname im Victoria Camp.
Ja'much hatte beide Hände flach auf Pauls Leib gelegt. Seltsamerweise schrie Paul unter dieser Berührung nicht auf, sondern erstarrte förmlich, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, als horche er angstvoll in sich hinein. Der alte Priester winkelte nun seine Hände an und begann, die grauschwarze Masse in Pauls Bauch nach oben zu drücken, mit beiden Handballen, langsam und beharrlich. Tatsächlich sah es aus, als schiebe er eine plumpe Kreatur, die sich in Pauls Leib eingenistet hatte, aufwärts, einen riesigen Frosch, eine unge heure Kröte, so daß Pauls eben noch ballonartig aufgeblähter Bauch in sich zusammenfiel. Mit streichenden, pressenden Händen drückte der Priester Cha'acs die nachgiebige Masse immer höher, zum Hals hinauf, dabei unablässig murmelnd. »Much«, glaubte Robert zu hören, »t'at'ara'atnak«, und dann wieder, mit scharfem Fauchen: »Much, much!« Aber er mußte sich verhört haben, dachte er, denn weshalb sollte Ja'much fortwährend seinen eigenen Namen murmeln?
Auf einmal riß Paul den Mund auf, seine Augen quollen noch weiter hervor, und Robert dachte, daß er wieder einen Schrei ausstoßen würde, aber es war kein Schrei. Würgende Übelkeit überfiel Robert, er sprang auf und prallte regelrecht zurück. Ja'much schob und preßte mit den Handballen über Pauls Rumpf, bis hinauf zu seiner Kehle, und eine Säule schwarzgrauen Schlamms schoß aus Pauls Mund hervor. Der Gestank war widerlicher, der Anblick grauenvoller als alles, was er je wahrgenommen hatte. Entgeistert sah er auf Pauls hervorgequollene Augen, seinen weit aufgerissenen Mund, aus dem eine Fontäne schierer Fäulnis emporstieg, die in steilem Winkel über seinen Kopf hinwegstob und sich hinter ihm ins Ufergras ergoß.
4
Ja'much hatte darauf bestanden, daß sie sich noch heute auf den Weg machten, nach Kantunmak, dreizehn Tagesreisen gen Süden. Die Zeit dränge, so der alte Priester, längst sei in der heiligen Stadt alles bereit zum Empfang des Götterboten, denn die Prophezeiung seiner Rückkehr bestehe seit mehr als neun Katun, hundertachtzig Jahren. Robert hatte zumindest durchgesetzt, daß sie noch für einige Stunden hier am Waldrand ausruhen
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