Im Tempel des Regengottes
ihr nur auf einmal von mir, dachte er, seinen Blick von einem zum anderen wendend, weshalb schaut ihr derart ergriffen auf mein Blatt?
Schon hatte der alte Priester Mabo herbeigewunken, der neben Pauls Bahre im Gras kauerte. Nun deutete Ja'much auf die Zeichnung und sagte: »Deine Erinnerung kehrt wahrhaftig zurück, Gesandter der Götter. Du weißt, wer die Frau auf diesem Blatt ist?«
Robert sah voller Erstaunen von Ja'much zu Mabo, der die Frage mit stoischer Miene übersetzt hatte, dann schüttelte er den Kopf.
»Wahrlich, du zeichnest so geschmeidig, als ob die Götter selbst dir die Hand führten.« Ja'much murmelte es, offenbar tief in Gedanken. »Man könnte glauben, du hättest diese Zeichnung nicht mit dem Stift in deiner Rechten ausgeführt, sondern mit dem heiligen Jadepinsel von Tayasal.« Geistesabwesend sah der alte Priester von der Skizze zur Robert und abermals auf das Blatt.
»Was hat es mit diesem Jadepinsel auf sich?« fragte Robert, von einer unbestimmten Erregung ergriffen. Er lauschte in sich hinein, für einen Moment war ihm, als habe er von diesem Pinsel schon einmal gehört oder ihn sogar einst mit eigenen Augen gesehen. Aber wie wäre das möglich?
Er selbst habe den Jadepinsel niemals zu Gesicht bekommen, erklärte der alte Priester, doch der Überlieferung nach handele es sich um einen Stab aus reiner Jade, von der Länge einer Knabenelle, mit Inschriften versehen und mit einem Pinselbusch aus Jaguarhaaren. Es war der Zauberstab des obersten Bilderpriesters, so Ja'much weiter, der in der Blütezeit von Tayasal die heiligen Gemälde im Innersten der Tempel anfertigte. In ritueller Trance malte der Bilderpriester geheimnisvolle Bilder in leuchtenden Farben, Gemälde, die nicht kunstvolle Illusion, sondern lebendige Wirklichkeit waren. Denn in ihnen offenbarten sich die Götter selbst ihren Geschöpfen, den Maya von Tayasal.
Noch immer standen die Priester in den grauen Gewändern dicht gedrängt hinter Robert, über seine Schultern gebeugt.
»Was ist nach dem Fall von Tayasal mit dem Jadepinsel geschehen?« fragte er, indem er abermals zu Ja'much aufsah.
Der alte Priester erwiderte seinen Blick, so erschrocken, als würde ihm erst in diesem Moment klar, mit wem er sprach.
»Nun, dieser Brauch wird schon lange nicht mehr ausgeübt«,
sagte er schließlich. »Viele Kantun, bevor du in Tayasal erschienst, verschwand der Jadepinsel über Nacht, ein rätselhafter Frevel, der den Zorn der Götter erregte. Durch den Mund des Canek befahlen sie, den Bilderpriester zu opfern, seinen Tempel zu vermauern. Seit damals wurde der Jadepmsel von Tayasal niemals mehr gesehen.«
In den Augenwinkeln bemerkte Robert, daß Stephen und Miriam in angespannter Haltung auf ihrem Steinbrocken saßen und den Worten Mabos lauschten, der scheinbar gleichmütig übersetzte. Ein Malerpinsel als göttliches Medium, dachte er. Ein Glaube, der schwindelerregende Perspektiven eröffnete: die geschaffene Welt als Kunstwerk eines göttlichen Malers...
Die Stimme des alten Priesters riß ihn aus seinen Gedanken.
»Diese Frau«, sagte Ja'much, auf Roberts Skizze deutend, »sie muß tatsächlich aus den Tiefen deiner Erinnerung aufgetauc ht sein. Ihr steinernes Bildnis steht vor dem Tor von Kantunmak, neben deiner Stele, Ajb'isäj -ju'um d'ojis, und es sieht aufs Haar so aus wie die Frau auf deinem Blatt!«
Robert blickte in sein grimmiges Gesicht, in dem sich tatsächlich Ergriffenheit zeigte, und ihm war, als taumelte er von einem Traum in den nächsten, noch tieferen Traum. »Und du irrst dich nicht?« fragte er endlich. »Auch sie hat damals wirklich gelebt, ebenso wie... ich?«
Ja'much nickte. »Sie hieß Ixkukul, ›Frau Welle‹. Du bist damals Hand in Hand mit ihr gestorben, enthauptet von der Axt des Opferpriesters.«
Ein Frösteln überlief Robert. Unwillkürlich griff er sich in den Nacken, und für einen gräßlichen Moment sah er das Opferbeil vor sich, über sich, wie es auf ihn herabschwang, ein dunkler Schatten im Abendlicht.
»Ich bin ihr begegnet«, sagte er, tief in Gedanken, »mehrmals, erst in Fort George, dann zweimal in Chul Ja' Mukal. Es ist, als hätte sie mich hierher geleitet, durch Träume und Zeichen... Aber wie kann es nur sein?«
Wieder schaute er zu Ja'much auf, fragend und durcheinander. Seine Verwirrung stieg noch, als er sah, daß der alte Priester ihn nun in blankem Entsetzen anstarrte, die Augen weit aufgerissen, die Kinnlade heruntergefallen, so daß seine starken, gelblich
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