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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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nach links zu beugen brauchte, um sie zwischen den Packstücken hervorzuziehen. Henry, dachte er, ob sie den kleinen Diener noch einmal wiedersehen würden? In der kurzen Zeit, die sie zusammen durch die Wildnis gezogen waren, hatte er sich an den scheuen Burschen doch schon ein wenig gewöhnt. Der Gedanke, daß Henry bei dem Überfall der Indios ums Leben gekommen sein könnte, versetzte ihm einen Stich. Doch im Grunde glaubte er nicht daran, Henry wird den jungen Mayakriegern entkommen sein, dachte er, oder sie hatten ihn einfach laufenlassen, weil er doch mehr oder minder einer der Ihren war.
    Unter diesen Gedanken nahm er die Blechschachtel heraus, in der er seine verbliebenen Habseligkeiten verwahrt hatte. Die Dose hatte zwar an einigen Stellen Rost angesetzt, doch als er sie aufklappte, schien ihr Inhalt unversehrt. Als er dann allerdings ein weißes Blatt herausnahm, rollte es sich vor Feuchtigkeit gleich wieder zusammen, und seine silberne Taschenuhr, die er sogar in eine mißratene Skizze. eingewickelt hatte, war der ewigen Nässe schließlich doch erlegen: Wie er die Unruhe auch spannte und das Gehäuse schüttelte, das Uhrwerk blieb stumm, und die Zeiger waren für immer stehengeblieben, bei zehn Uhr zehn.
    Er legte die Uhr in die Schachtel zurück und holte einen Graphitstift hervor, dann rollte er das Blatt abermals auf seinen Knien auf und begann zu zeichnen. Gleich nachher würde er Ajkechtiim die Skizze zeigen, dachte er, auch der kleine Krieger mußte die junge India bemerkt haben, sofern sie tatsächlich in Chul Ja' Mukal gewesen war, in der Höhle Cha'acs oder sogar auf dem Weg zwischen den Hütten, wo er sie für einen höchst verwirrenden Moment gleichfalls gesehen hatte.
    Mit raschen Strichen warf er ihre Umrisse aufs Papier, im Halbprofil, so daß ihre schlanke und doch kraftvolle Gestalt gut zur Geltung kam, ebenso ihr Gesicht, die vollen Lippen, die ein wenig aufgestülpte Nase, der Mandelschnitt ihrer Augen und darüber ihr glänzend schwarzes, zum Vogelnest aufgestecktes Haar. Er starrte auf das Papier, und auf einmal war ihm, als sähe er sie wahrhaftig vor sich, als wendete sie sich vollends hin zu ihm, so daß er ihr Gesicht erblickte, handbreit vor sich, ihren schlanken Leib, ihre Brüste, die ihm regelrecht entgegensprangen aus dem nackten Weiß des Papiers. Sein Herz begann rascher zu klopfen, und er spürte ein pulsierendes Ziehen in seiner Leibesmitte, die durch den Schurz nur notdürftig bedeckt war.
    Dann erst wurde ihm bewußt, daß Miriam zu seiner Rechten ihn noch immer beobachtete, unverwandt, aus katzenhaft grünen Augen. Peinlich berührt riß er sich aus seinen Phantasien heraus und konzentrierte sich abermals auf seine Zeichnung, doch kaum hatte er begonnen, die Silhouette der schönen India stärker zu schattieren, da schweiften seine Gedanken schon wieder ab. Mary kam ihm in den Sinn, seine Verlobte, Miriam ist Mary, dachte er wieder, hübscher, begehrenswerter als Mary, aber doch auch berechnend wie sie, hartherzig und stets auf ihren Vorteil aus. Oder war es möglich, daß er ihr unrecht tat? Was wußte er eigentlich von Miriam, der angeblichen Nonne, der Geliebten Stephens, die in Stephens und Pauls Bündnis eingebrochen war wie eine zerstörerische Macht?
    Er sann darüber nach, und auf einmal war ihm, als ob Miriam ihm zulächelte. Ein aufforderndes, ja schamloses Lächeln, dachte er, wagte aber nicht, den Blick von seiner Zeichnung zu heben. Unangenehm wurde er sich aufs neue seiner Nacktheit bewußt. Noch immer war er am ganzen Leib mit Blut besudelt, vorhin hatte er in den Seerosenteich waten wollen, um sich zu reinigen und zu erfrischen, aber zu seinem Schrecken hatten ihn gleich vier Priester Cha'acs gepackt und an Händen und Armen vom Ufer zurückgezogen. »K'ik saantoj, heiliges Blut!« hatte Ja'much ausgerufen, die verstrüppten Brauen gerunzelt, seine Miene finsterer denn je. Bei furchtbarer Strafe sei es verboten, das Opferblut abzuwaschen, kostbarste Gabe der Götter, Zeichen des Todes, den der Götterbote über ihre Feinde bringen und in den zuletzt auch er selbst gehen würde, wenn seine Aufgabe vollbracht, seine Schuld getilgt sein würde.
    Wahrhaftig wie ein blutüberströmter Messias, dachte Robert, sollte er gen Kantunmak ziehen, nach dem Willen der Regengottpriester, die plötzlich alle sechs hinter ihm standen, dabei hatte er sie überhaupt nicht herantappen gehört. Sie beugten sich über seine Schultern und starrten auf seine Skizze. Was wollt

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