Im Tempel des Regengottes
stieg seine Hoffnung. Vielleicht aber, dachte er dann, hatten sie auch ihn längst überwältigt und nur in einer anderen Hütte eingesperrt. Auf einmal verspürte er den Wunsch, für das Gelingen von Mabos Flucht zu beten, doch dann zögerte er, unschlüssig, an welche Wesenheit er seine Bitte richten sollte. An den Gott des Abendlandes sicher nicht, dachte er, den hellhäutigen Himmelsherrn, den Mrs. Molton oder seine eigenen Eltern voller Selbstgewißheit anzurufen pflegten. Doch auch die Gottheiten der Maya schienen ihm nicht die rechten Adressaten, zumal er von der Beschaffenheit dieser Geister nur verworrene Vorstellungen hatte.
Er bewegte seine Finger hinter seinem Rücken hin und her und beobachtete dabei den Wächter, der ein Dutzend Schritte links von ihm im Eingang des Langhauses stand, schmalschultrig und reglos neben seinem aufgepflanzten Speer. Es war der junge Krieger, der ihn vorhin mit dem Messer in Schach gehalten hatte und dem vielleicht deshalb auch die Rolle zugefallen war, die Gefangenen zu bewachen. Ab und an tat er einige Schritte in den Raum hinein und musterte ihn drohend, und dann glaubte Robert jedesmal zu sehen, wie seine Augen leuchteten, zweifellos vor Stolz.
Er lauschte auf die abendlichen Geräusche des Dorfes, und sie klangen so friedlich in seinen Ohren, daß ihm die Gefahr, in der sie schwebten, momentweise ganz unwirklich schien. Hühner gackerten, ein Schwein quiekte, und Kinder lachten mit hellen Stimmen auf. Der kräftige Geruch frisch gebackener Tortillas wehte von den Hütten herüber, so daß sich sein Magen zusammenzog. Seit ihrer Mittagsrast hatten sie nichts mehr gegessen, und es hatte nicht den Anschein, als ob die Krieger ihre Gefangenen verköstigen wollten.
Was war mit den Vätern und Onkeln dieser Jünglinge geschehen, fragte er sich wieder, und wohin nur mochten Oldboy und seine Leute verschwunden sein? Für einen Mome nt sah er abermals die verstümmelten, gräßlich zugerichteten Leichen vor sich, die er in Pauls Glas erblickt hatte, ihre schaumig verquollenen graurosa Maskengesichter, und sein Herz begann hart und holpernd zu schlagen. Es mußte einen Zusammenhang zwische n der Abwesenheit der erwachsenen Krieger und dem Verschwinden von Oldboy und seinen Leuten geben, dachte er. Vielleicht bestand dieser Zusammenhang ja tatsächlich einfach darin, daß sie die Krieger »zum Holzschlagen in den Wald getrieben hatten«, wie Paul sich ausgedrückt hatte. Aber das erklärte nicht, warum allem Anschein nach weder Oldboy mit seinem Trupp erfahrener Scouts und Kartographen noch die Männer des Dorfes jemals aus dem Wald zurückgekehrt waren.
Aufs neue kroch die Angst in ihm empor, und er zwang sich, ruhig ein-und auszuatmen. Die Nacht sank herab, so rasch wie an jedem Abend in den Tropen. Die Lichtschimmer vor den rissigen Holzwänden wurden fahler, der Tortillageruch vermischte sich mit dem Duft gebratenen Hühnerfleischs. Die Vögel ringsum im Urwald begannen ihr abendliches Kreischen und Zetern, das jeden anderen Laut übertönte, selbst das Tosen des Wassers in der Schlucht.
Robert lauschte auf ihr zehntausendstimmiges Crescendo, und wie so oft, wenn er dieses Kreischen der Wildnis hörte, verwirrten sich seine Gedanken, und er verfiel in traumhaftes Dämmern. Mary trat vor sein geistiges Auge, seine verlassene Verlobte, im taillierten Promenadenkleid erschien sie vor ihm, und eine meterlange Schleppe schleifte hinter ihr her. Das Kostüm einer Königin, dachte er, aber wie kalt ihre Augen ihn ansahen, abschätzig, berechnend, und ihr Korsett war so eng geschnürt, daß sie kaum Luft bekam. Genauso hatte sie versucht, auch ihm die Atemluft abzuschnüren, nicht etwa durch Umarmungen, sondern durch das Korsett ihrer Forderungen, Gewohnheiten und Traditionen, das sie ihm umgeworfen hatte. Doch er hatte sie weggestoßen, sich das Korsett vom Leib gerissen, wie er sich nun sagte, buchstäblich im letzten Moment. Während Marys knochige Gestalt mit den kalten, wasserhellen Augen vor ihm verblaßte, schwoll draußen das Kreischen der Vögel immer noch lauter an, als ob hunderttausend Narren mit sich überschlagenden Kopfstimmen gleichzeitig ihren Irrsinn aus sich herauskreischten. Auf einmal war ihm, als ob andere Stimmen, dunkler, zornig, sich dazwischenmischten. Der Mestize, dachte er, und das Herz wollte ihm stehenbleiben, denn in diesem Moment trat der Wächter vor dem Eingang beiseite, und zwei Krieger schleppten Mabo herein, der an Händen und Füßen gefesselt
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