Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
würde. Luke konnte das deutlich spüren.
Ihre Angst, die sich zweifellos zu einer Gruppenhysterie gesteigert hätte, wenn sie zugelassen hätten, dass sie von ihren Gedanken Besitz ergriff, hatte sie dazu gebracht, Hutch gegen elf Uhr hinter sich zu lassen. Mit gesenkten Köpfen waren sie langsam aber gleichmäßig vorangeschritten, immer weiter aufwärts, bis sie die Schlucht erreichten, die sie in ihrem körperlichen Zustand keinesfalls bewältigen konnten. Die tiefe Erdspalte erstreckte
sich in beide Richtungen und verlor sich irgendwo zwischen den vom Nebel umwaberten Bäumen.
Dass Hutch nicht mehr am Leben war, hatten sie bislang noch gar nicht richtig realisiert. In ihrer totalen Erschöpfung waren sie dazu überhaupt nicht in der Lage. Luke war diese Abgestumpftheit ganz recht, seine Emotionen waren wie betäubt von dem, was er nicht nachvollziehen konnte. Aber hin und wieder drang die brutale Wahrheit in sein Bewusstsein oder in das der anderen, und dann schluchzte einer von ihnen auf oder stieß etwas wie »O Gott, bitte nicht!« hervor, während sie immer weiter zwischen den Bäumen hindurchstolperten. Es war unvorstellbar. Sie lebten inmitten des Unvorstellbaren.
»Wasser. Und ein paar Kalorien«, sagte Luke in der Hoffnung, anschließend wieder klarer denken zu können. Der Wassermangel ließ seine Gedanken immer vager und unzusammenhängender werden. Sie kamen und gingen, schwammen ziellos in seinem Kopf herum. Seine Lungen arbeiteten kraftlos, seine Aussprache war undeutlich. Er war viel zu müde, um mehr als ein paar knappe Worte an seine Kameraden richten zu können. »Nehmt das Gepäck runter. Wir haben uns eine Pause verdient. Vergesst den ganzen Scheiß für einen Moment. Wir sind ziemlich gut vorangekommen. Ihr habt euch gut gehalten, Jungs.«
Es war das erste Mal seit einer Stunde, dass er etwas gesagt hatte. Er war viel zu müde gewesen, um den anderen beiden irgendwelche monotonen Ermunterungen oder Hinweise zukommen zu lassen. Er trug das Zelt, seinen eigenen Rucksack auf dem Rücken und dazu noch Doms Gepäck vor die Brust geschnallt. Das anstrengende Klettern über das felsige Gelände hatte ihn an die Grenze des Erträglichen geführt, und jetzt war es gerade mal früher Nachmittag. Die Riemen der beiden Rucksäcke gruben sich in sein Fleisch und verursachten üble Schmerzen, die er auch nicht loswurde, wenn er ihren Sitz etwas veränderte. Er biss einfach die Zähne zusammen und stolperte
weiter, bis sich sein Blick vor Anstrengung verzerrte. Trotzdem musste er alle paar Minuten anhalten, wenn die anderen nach ihm riefen und verlangten, er solle langsamer gehen oder auf sie warten, weil sie Angst hatten, er könnte sich zu weit von ihnen entfernen. In seinem Hals pochte es schmerzhaft, nachdem er Doms Rucksack zur Seite schob, um besser sehen zu können, wo er seine Füße hinsetzte. Wenn sich einer von ihnen den Knöchel verstauchte, konnten sie sich gleich ausziehen und auf das Ende warten.
Er hasste es, dass er sich nicht frei bewegen konnte, vor allem mit den Armen. Wenn sie angegriffen würden, könnten wertvolle Sekunden vergehen, in denen er sich mit den Riemen und den Rucksäcken abquälen musste. Und ihr Gegner war zweifellos viel schneller. Schnell und leise war dieses Ding, es sei denn, es entschied sich dazu, sie aus der Ferne zu verhöhnen.
Es hätte sich jeden von ihnen während der letzten zwei Stunden schnappen können, Luke wusste das ganz genau. Irgendwann waren sie einfach zu müde geworden, um weiterhin wachsam zu bleiben, während sie durch irgendwelches Gestrüpp stapften oder taumelten. Vielleicht tötete dieses Ding ja nur, wenn es hungrig war. Der Gedanke daran bereitete Luke nichts als Übelkeit.
Aber wenn er nicht Doms Rucksack und das Zelt übernommen hätte, würde der mit seinem einen gesunden Bein noch langsamer gehen. Sein schlimmes Knie war jetzt arg angeschwollen und völlig farblos. Um die Kniescheibe herum waren keine Konturen mehr auszumachen. Die Haut unter dem Verband war straff gespannt und heiß, wenn man sie berührte. Die Stelle überhaupt nur anzusehen machte Luke schon völlig fertig. Schon bei der kleinsten Steigung musste Dom seitlich hinaufgehen und seine Krücke benutzen, um sich hochzustemmen, während er sein krankes Bein hinter sich herzog, damit es nicht das geringste Gewicht tragen musste. Das Bein musste
dringend hochgelegt werden und ruhen, mindestens drei oder vier Tage lang, bevor er es wieder belasten konnte. Je mehr er
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