Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
hier herumtaumelte, umso schlimmer wurde es. Seit dem Morgen war Doms Gesicht eine einzige Maske des Schmerzes und der Anspannung. Und in seinen Augen konnte man sehen, wie sehr ihn die Angst quälte, er könnte ausrutschen oder stolpern und hinfallen und noch mehr Schmerzen erleiden.
Am oberen Rand der Schlucht ließen Dom und Phil sich ebenfalls auf einen Stein fallen und setzten ihre Füße auf das feuchte Moos, das zwischen den Felsbrocken wuchs. Laut keuchend hockten sie neben Luke und starrten auf ihre Füße, ohne sie wahrzunehmen. Sie hatten die Regenjacken geöffnet und die Kapuzen abgezogen. Die Mützen steckten in ihren Hosentaschen. Ihre roten Gesichter waren mit einem schmierigen Schmutzfilm überzogen und glänzten vor Schweiß.
Die Verantwortung drückte auf Luke. Er spürte geradezu körperlich, wie sie auf ihm lastete, sein Hintern schmerzte auf dem rauen Stein. Er hatte noch nie in seinem Leben einen derartigen Gewaltmarsch angeführt, und vorher hatten sie sich ja während der ganzen Wanderung auf Hutch und seine Ortskenntnis verlassen. Tief in seiner Magengrube brodelte der Zorn und erweckte ihn wieder zum Leben. Was hatte Hutch sich eigentlich dabei gedacht, als er für diese beiden Fettwänste eine derartig abgelegene Route ausgesucht hatte? Die ganze Wanderung war viel zu ambitioniert für Leute wie Dom und Phil. Selbst wenn sie auf ihrer verzweifelten Suche nach einer Abkürzung nicht auch noch völlig unbekanntes Gebiet durchquert hätten.
Luke nahm drei Schlucke aus der Wasserflasche. Es schmeckte nach Gummi und dem Wald, der sich um sie herum erstreckte: Nach widerlichem feuchten Holz, vergammelten Blättern und kalter modriger Luft. Es ekelte ihn an. Aber sogar sie selbst rochen mittlerweile so. Sie waren fast schon ein Teil davon geworden. Nur die wenigen hellen Farbtupfer auf ihren von
Menschenhand angefertigten Stoffen, die sie am Leib trugen, wiesen sie noch als Andersartige aus, inmitten von diesem gedankenlosen, unbarmherzigen natürlichen Verfall, durch den sie sich bewegten. Es wäre so einfach gewesen, sich zu Boden fallen zu lassen und sich den Kräften der Zerstörung zu überlassen, sich auffressen zu lassen oder einfach zu verrotten. Die grausige Endlosigkeit, die unendliche Weite des Landes und ihre vollkommene Bedeutungslosigkeit darin ließen ihn beinahe den Verstand verlieren.
Er breitete die Landkarte auf seinen Oberschenkeln aus, bevor die anderen beiden den Anfall von Panik von seinem Gesicht ablesen konnten, denn dort zeigte er sich genauso deutlich wie an seinen zittrigen Händen. Er nahm die grünen und braunen Schattierungen auf der Karte in Augenschein, konnte aber in dem, was er sah, nicht viel Sinn erkennen. Vor lauter Erschöpfung und Müdigkeit war er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Auf der Karte wurde darauf hingewiesen, dass sie sich in einem Nationalpark befanden und eine Mischung aus Marschland und Urwald durchquerten. Genauere Angaben aber oder Tipps, wie sie sich orientieren konnten, fehlten. Er fühlte sich jetzt antriebslos und nahezu apathisch. Er war kaum mehr fähig, sich zu konzentrieren. Was konnte das bedeuten? Unterkühlung. Kaum möglich. Ihre Sachen waren feucht und ihnen wurde kalt, wenn sie anhielten, aber sie waren nicht durchnässt bis auf die Haut und zitterten nicht die ganze Zeit vor Kälte. Noch nicht.
»Wo sind wir?« Dom schob sich seitwärts auf einen neben ihm liegenden Steinbrocken.
Wie zum Teufel sollte er das wissen? Er wusste ja noch nicht einmal, wie viel der Wegstrecke sie heute Vormittag bewältigt hatten. Ihm kam es vor, als wären sie kilometerweit durch eine Wildnis gewandert, deren raue Formen ihnen ein Vorankommen nur vorgaukelten. Vor sechs Jahren hatten er und Hutch sich einmal verirrt, als sie auf einer schwedischen Insel vom Strand
zurückgelaufen waren, nur in Shorts und T-Shirts. Die Insel war gerade einmal sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit gewesen, aber irgendwie waren sie im Kreis gelaufen. Als sie wieder an dem Punkt ankamen, an dem sie zwei Stunden zuvor losgegangen waren, waren sie völlig verkratzt gewesen. Dabei hatten sie sich eingebildet geradeaus in östlicher Richtung zu marschieren. Immerhin hatten sie jetzt einen Kompass dabei, aber der konnte ihnen auch nicht dabei helfen, aus dem Wald herauszufinden. Wo genau sie jetzt waren oder wie weit sie vorangekommen waren, ließ sich kaum sagen. Jedenfalls nicht so weit, wie es den Anschein hatte. Inzwischen hatte er genug Erfahrung,
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