Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
ursprünglichen Plan? Der ursprüngliche Plan war, so schnell wie möglich hier rauszukommen und zwar auf dem direktesten Weg. Folgen wir diesem ursprünglichen Plan etwa nicht mehr?«
Er war wieder sarkastisch. Immer wurde er sarkastisch. Würde das überhaupt jemals aufhören? Er humpelte mit seinem kaputten Knie durch die Gegend und meckerte und beklagte sich. Luke war seine einzige Chance, diese Katastrophe zu überleben, und trotzdem behandelte er ihn schlecht. »Dir wird bestimmt gar nicht gefallen, was ich dir jetzt vorschlagen werde.«
»Da gehe ich jede Wette ein, stimmt’s Phil?«
Phil schaute sie verwirrt an. »Was?«
»Er denkt drüber nach abzuhauen. Hab ich nicht Recht? Und uns willst du hier zurücklassen.«
»Hör mal …«
»Ich kann nicht glauben, dass du das ernsthaft in Erwägung ziehst.«
Luke biss die Zähne zusammen. »Wenn du noch richtig laufen könntest, würdest du dann überhaupt hier sein?«
»Was?« Dom schüttelte angewidert den Kopf. »Ich glaub’s ’s nicht. Obwohl ich mich frage, wieso mich das eigentlich so überrascht. Erst schnappst du dir die Karte und spielst den ganzen Tag Hutch. Führst uns nur noch mehr in die Irre. Und dann kommen wir an diese Schlucht, und du lässt uns einfach sitzen. Dabei haben wir heute Morgen abgesprochen, dass wir zusammenbleiben. «
»Du hast es gesagt, Luke, du hast es gesagt!«, brach es aus Phil hervor, mit einer Heftigkeit, die Luke völlig durcheinanderbrachte.
»Aber so ist das doch gar nicht gemeint.«
»Aus meiner Perspektive sieht es aber genau so aus. Jetzt heißt es also, jeder kümmert sich nur noch um sich selbst. Rette sich wer kann, hm? Bitte schön. Dann geh doch, du Arschloch!«
»Hört doch mal zu …«
»Ich hab keine Lust mehr zuzuhören. Zuerst kommt Hutch mit seinen tollen Ideen, und der Effekt ist, dass er jetzt tot ist. Und nun du. Und wir stecken immer noch hier fest. Völlig orientierungslos. Richtig beschissen orientierungslos.« Seine Stimme verlor sich in einem hoffnungslosen und wütenden Schnauben. Luke spürte, wie jede einzelne Faser in seinem Körper vor Schmerz aufschrie: Aufhören! Bitte, lieber Gott, mach, dass das alles hier aufhört!
Luke stand auf. Dom zuckte zusammen. Phil spannte sich an. Sie glaubten offenbar, er wolle sie schlagen. Warum denn? Er war doch gar nicht so. Oder doch? Verließ er sie etwa nur deshalb, weil sie ihn am Fortkommen hinderten, oder wollte er ernsthaft versuchen, sie zu retten? Vielleicht hatte Dom ja Recht, und er wollte nur seinen Egoismus kaschieren, seinen eigenen Überlebensdrang. In extremen Situationen überlagerte der Selbsterhaltungstrieb alles andere. War es jetzt an der Zeit für ihn, das Seil zu kappen? Würde er sonst mit ihnen zusammen untergehen? Er wusste nicht, was er denken sollte.
Mit einem Mal schämte er sich. Er sah sich selbst, wie er diese beiden einsamen Gestalten, die neben einem halb zusammengefallenen Zelt hockten, zurückließ. Keiner von beiden war in der Lage, ein Zelt richtig aufzubauen. Er und Hutch hatten seit dem Anfang ihrer Wanderung immer beide aufgestellt.
Luke deutete nach unten in die Schlucht. Er hatte einfach keine Kraft mehr für eine weitere Konfrontation. Er sah Dom eindringlich an. »Kannst du es da rüberschaffen?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»Ja, verdammt, wirklich.«
»Okay, dann gehen wir jetzt los.«
Phil schaute hektisch von einem zum andern. »Zu mehreren ist es sicherer«, sagte er und hob dabei seine Stimme, so dass die Feststellung zu einer Frage wurde.
35
»Ich kann nicht mehr weiter.« Dom starrte zwischen seinen Knien hindurch auf den Boden, auf den er sich hatte fallen lassen. Sein Gesicht wurde von der Kapuze verdeckt.
»Ich auch nicht«, schloss Phil sich ihm an.
Luke drehte sich von ihnen weg und blickte die steile Anhöhe hinauf, die sie als Nächstes überwinden mussten. Schon allein der Anblick nahm ihnen jeden Mut. Es war einfach ein Hindernis zu viel.
Er stöhnte auf und nahm die Rucksäcke herunter, zuerst den vor der Brust, dann den auf dem Rücken. Sein Oberkörper schmerzte überall. Er streckte sich, seine Wirbelsäule knackte, und er spürte kurze unangenehme Stiche im Rücken. Am schlimmsten tat es ihm zwischen den Schultern weh. Ohne das Gewicht der Rucksäcke, die wie Kompressen wirkten, zogen seine Muskeln sich heftig schmerzend zusammen. Was war nur mit seinen Oberschenkeln los? Sie fühlten sich ganz schwer an und zitterten unkontrolliert. Er sah auf die Uhr. Es war 16.25
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