Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Tolik in vollem Lauf die Ohren zuhielt – und damit den Ausgang der wilden Verfolgungsjagd besiegelte. Hatte er zuvor noch mit weit zur Seite gestreckten Armen das Gleichgewicht gehalten, so blieb er nun beim nächsten Schritt an einer Schwelle hängen und schlug der Länge nach aufs Gleis. Di e Vögel waren sofort über ihm.
Zuerst verschränkte er schützend die Arme über dem Kopf, um den Schnabelhieben zu entgehen, doch ihm wurde rasch klar, dass diese Taktik fruchtlos war. Er drehte sich auf den Rücken und begann, mit Armen und Beinen wild um sich zu schlagen, in der Hoffnung, möglichst viele der geflügelten Monster mit ins Jenseits zu nehmen.
Hin und wieder traf er tatsächlich einen Rumpf oder Flügel und hörte das schauderhafte Knacken brechender Knochen. Doch meistens schlug er vorbei. Das Geflatter über ihm wurde so heftig, dass er ständig Federn in den Mund bekam und kaum noch atmen konnte . V erzweifelt spuckte er aus und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Toliks Widerstand änderte nichts am Ausgang des Kampfes. Unzählige scharfe Krallen bohrten sich in sein Gesicht, in seine Arme und Beine. Di e Vögel drückten ihn fest zu Boden und hackten wie besessen mit ihren Schnäbeln auf ihn ein. Sein ganzer Körper brannte. Je schlimmer die Schmerzen wurden, umso schwächer wurde sein Wille zum Widerstand . V or seinem inneren Auge sah er sein eigenes Skelett, das, sorgfältig abgenagt, in der Dunkelheit phosphoreszierte.
Plötzlich flutete grelles Licht in den Tunnel. Gemessenen Schrittes näherte sich ein Mann, den eine leuchtende Aura umgab. Er hatte einen zylindrischen Gegenstand in der Hand.
Der Streckenwärter!
Er war gekommen, um Tolik zu retten! Tatsächlich ließen di e Vögel von ihm ab und plumpsten aufs Gleis. Im Tunnel begann es nach verbranntem Horn und verkohltem Fleisch zu stinken.
»Danke!«, wollte Tolik schon rufen.
Doch die Dankesworte blieben ihm im Halse stecken, als er den Streckenwärter aus der Nähe sah . A nstatt seines Kapuzenumhangs trug er einen weißen Kittel. Und der zylindrische Gegenstand in seiner Hand war eine überdimensionale Infusionsspritze, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit aufgezogen war.
»Ich fürchte, mit diesem jungen Mann wird es Probleme geben«, sagte der Weißkittel. »Er zeigt keine adäquate Reaktion auf das Präparat. Siehst du die Geschwüre an seinen Beinen? Ich vermute, dass er einmal mit chemischen Kampfstoffen in Berührung gekommen ist. Möglicherweise sind periphere Gewebe betroffen. Das verlangsamt den Blutfluss erheblich. So ein Krankheitsbild wurde schon an Pharaonen im alten Ägypten festgestellt . A us rein wissenschaftlicher Sicht wäre der junge Mann sicher interessant. Trotzdem hätte ich lieber einen Patienten ohne trophische Geschwüre. Es könnte zu einer Abstoßungsreaktion kommen.«
»Vielleicht sollten wir uns gar nicht erst mit ihm abmühen?«
»Wir machen noch eine n Versuch. Wenn es dann nicht klappt, schreiben wir ihn ab.«
Es war Korbuts verhasste Stimme.
Tolik schlug die Augen auf. Seine Hände waren mit Draht an einem eisernen Bettgestell festgebunden. Es war naiv gewesen zu glauben, dass man den Saboteuren gestatten würde, das Labor aus eigener Kraft zu betreten. Nikita war vorsichtig. Er hasste es, Fehler zu machen. Man hatte sie betäubt und dem Professor wie Labormäuse auf dem Silbertablett serviert.
Tolik versuchte, den Kopf zu heben. Ein breiter Riemen, der seinen Hals fixierte, machte ihm schon nach wenigen Zentimetern einen Strich durch die Rechnung. Trotzdem konnte er sich jetzt ein Bild von seiner Umgebung machen.
Er befand sich in einem großen Labor. Die Wände waren nicht gefliest, wie Tolik erwartet hatte, sondern einfach mit Zement verputzt . A n manchen Stellen war dieser rissig oder abgeblättert, sodass der rote Ziegelkörper des Raums darunter zum Vorschein kam.
Der einzige Wandschmuck waren Plakate mit mysteriösen Grafiken und Formeln . V on der Decke hingen etliche Glühlampen ohne Schirm. Für ihren Professor sparten die Roten nicht an Strom. Freundlich wirkte der Raum trotzdem nicht, eher im Gegenteil. Das grelle Licht war aufdringlich. Die Menschen warfen hier keine Schatten. Wie di e Vampire in den Legenden, dachte Tolik.
An den Wänden des Labors waren ringsum schmale Tische aufgestellt, auf denen diverse Glaskolben, Flaschen und Metallgefäße herumstanden. Manche davon waren mit Glasröhrchen und Schläuchen zu komplizierten Versuchsanordnungen verbunden. Die drei
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