Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Gleis. Tolik konnte nur einen gebeugten Rücken, graues Haar und übermäßig lange Arme erkennen. Dann verschwand der Unbekannte in einem Seitengang.
Mit der Rohrzange in der Hand schlich sich Tolik an den Korridor heran. Dort verharrte er und lauschte. Nichts zu hören. Nur der eigene Herzschlag und das Pochen in den Schläfen.
Tolik winkte Krabbe herbei, deutete auf die Taschenlampe und gab ihm mit Gesten zu verstehen, er solle sich auf der gegenüberliegenden Tunnelseite postieren. Krabbe folgte seinen Anweisungen und richtete den Lichtkegel der Lampe auf den Eingang. Im selben Moment stürmte Tolik mit gezückter Rohrzange hinein.
Di e Vorsicht erwies sich als unbegründet . A n der Wand saß friedlich ein alter Mann. In seinen runzligen Händen lag ein dünnes, rostiges Rohrstück, das ihm vermutlich als Gehstock diente. Sein flaumiges, weißes Haar verdeckte fast vollständig sein Gesicht. Bekleidet war der Greis mit einem grauen, bis über die Knie reichenden Hemd. Um seinen Hals hing eine Kette aus Rattenzähnen.
Au f Toliks Erscheinen zeigte der Alte nicht die geringste Reaktion. War er womöglich so erschrocken, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte?
Krabbe, der inzwischen hinzugetreten war, sorgte mit der ihm eigenen Zwanglosigkeit für Klarheit . A ls er begriff, dass keine Gefahr bestand, rüttelte er den Alten grob an der Schulter.
»He, Opa, aufwachen!«
Der alte Mann hob langsam den Kopf, schob sich das Haar aus dem Gesicht und richtete den Blick auf Krabbe. Seine schmalen Lippen öffneten sich und entblößten verfaulte Zahnwurzeln. Dann begann er leise und nuschelnd zu sprechen:
»Als die Stund geschlagen hatte,
in einer kalten dunklen Nacht,
hat eine riesenhafte Ratte
laut an meine Tür gepocht …«
Ein Gedicht?!
Tolik lief es kalt den Rücken herunter. Das lag weniger an den lyrischen Ergüssen des Alten, als an der Tätowierung an seinem Unterarm: ein menschlicher Körper mit Rattenkopf und einem als Pfeil auslaufenden Schwanz. Dieses Sinnbild kannte Tolik aus seinen Albträumen und wusste, dass es auf unergründliche Weise mit der Timirjasewskaja in Verbindung stand.
Den zynischen Krabbe beeindruckte weder die Tätowierung noch das Gedicht. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht des Alten und schnippte mit den Fingern.
»Was ist, Opa? Bist du blind?«
Der Alte brach in schepperndes Gelächter aus.
»Und du, Wanderer, hältst dich etwa für sehend? Da täuschst du dich. Sehende gibt es hier nicht. Die Besitzer von Augen haben es schwer in dieser Welt. Denn der Augenschein ist trügerisch, beim Schwanze von Baphomet. Du siehst etwas vor dir, was gar nicht da ist, und bemerkst nicht, dass hinter deinem Rücken die eigentliche Gefahr lauert – das, was dich schlussendlich auffressen wird . V erlass dich auf dein Gehör und deinen Geruchssinn – sie sind die besten Orientierungshilfen im Reich der Ratten.«
»Jetzt hör doch mit dem albernen Geschwätz auf«, unterbrach Krabbe den Alten. »Wer bist du überhaupt, und was sitzt du hier rum?«
Der blinde Greis erhob sich und streckte stolz seine dürre Brust vor.
»Ich bin ein Führer, und mein Name ist Charon.«
»Alles klar«, sagte Krabbe und nickte. »Ein Irrer.«
Für Tolik war keineswegs alles klar. Der seltsame Name des Alten kam ihm bekannt vor. Nach einigem Nachdenken fiel ihm ein, dass der Name in den Mythen und Legenden des antiken Griechenland vorkam. Charon war der Fährmann, der die Toten über den Fluss Styx zum Eingang des Hades brachte. Wohin brachte dann wohl dieser neuzeitliche Charon seine Klienten? Ein zahnloser Blinder, der offensichtlich nicht alle Tassen im Schrank hatte und mit einem Kettchen aus Rattenzähnen durch die Gegend lief?
»Wir müssen zur Dinamo , Väterchen«, sagte Tolik versöhnlich. »Kannst du uns helfen, den richtigen Tunnel zu finden?«
»Dinamo, Dinamo, Dinamo …«, murmelte der Alte und rieb sich die furchige Stirn. »Einen solchen Ort gibt es hier nicht und hat es nie gegeben. Beim Auge der Ratte. Charon lebt schon lange. Charon weiß das genau.«
»Aber von der Belorusskaja wirst du ja wohl schon mal gehört haben«, versetzte Krabbe gereizt. »Stell dich nicht dümmer, als du bist!«
»Die Belorusskaja . Hm … Ja, so eine Station hat es mal gegeben . A ber das ist schon lange her. Jetzt gibt es sie nicht mehr.«
Tolik kam sich vor wie im falschen Film. Würmer, die gleichsam aus dem Nichts auftauchten. Eine haarsträubende Flucht, auf der es sie weiß der Geier wohin
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