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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Ja, der Gedanke, daß der abstoßend verdrehte Körper und die Visage, an die er jetzt gefesselt war, die wahre Natur dieses Mannes widerspiegelten, war nur allzu überzeugend.
    Aus irgendeinem Grund hatte auch er sie nicht erkannt. Aber warum, und zu welchem Zweck diese Mißgeburt von Stadt geschaffen worden war, das waren Fragen, die sie nicht einmal im Ansatz beantworten konnte. Kaltes Entsetzen fesselte sie an ihren Platz hinter den Kulissen.
    Ein manisches Grinsen hatte sich in Rymers Gesicht gegraben; sein Tanz war zu Ende, und er kippte in einem tiefen Hofknicks auf die Bühne. Eileen konnte hören, wie die Muskeln in seinen Beinen von den Knochen rissen; so wüst verrenkte sich sein Körper.
    Mit einem Wirbel von Gebärden ließ Day ihn nochmals hochfahren; seine Hand riß den Säbel aus dem Gürtel, und er marschierte mit emporgereckter Klinge auf der Bühne auf und ab: eine höhnische Parodie auf den militärischen Parademarsch. Das seelenlose Gelächter des Publikums verdoppelte sich und wurde ohrenbetäubend. Einen gräßlichen Moment lang schaute sie Bendigo in die Augen, und sie sah, daß dort bewußte Qual und Entsetzen hervorbluteten; aber kein Wort vermochte das grausige Grinsen abzulösen, das seine Stimme erstickt hatte. Dann wurde sein Körper herumgerissen und marschierte wieder davon.
    Sie bereute jeden einzelnen Augenblick, da sie Unheil über diesen Mann herabgewünscht hatte. Diese Demütigung war etwas, das kein Mensch sollte ertragen müssen. Sie hatte Tränen in den Augen und wünschte sich eine Pistole, um den armen Hund von seinenn Leiden zu erlösen, und die restlichen Kugeln wollte sie für Reverend Day aufheben.
    Bendigo kam zum Stehen und salutierte zur Loge hinauf. Der Reverend hob die Hände über den Kopf, und Bendigo erhob sich sanft in die Luft. Seine nackten, spindeldürren Beine strampelten wie Windmühlenflügel, als renne er eine unsichtbare Treppe hinauf. Er schwebte über dem Publikum empor und blieb auf der Höhe des Reverend hängen. Der Reverend ließ eine Hand flattern, und Bendigos Perücke hob sich vom Kopf und sauste wie ein fliegender Terrier durch die Luft davon. Der Gelächter wurde zu einem hysterischen Crescendo und brach jäh ab.
    »Doch jetzt erzählen Sie uns, Mr. Rymer – wie ich höre, hegen Sie den geheimen Wunsch, einmal den Hamlet zu spielen«, rief Reverend Day mit einem übertriebenen Hinterwäldler-Näseln.
    Bendigo rang keuchend nach Luft und nickte kurz – seine dumpfe Antwort. Eileen sah, wie ein Zucken der Erregung in den Augen des erbärmlichen Dummkopfs aufleuchtete, sogar eine leise Regung von Stolz.
    »Nun, dann seien Sie nicht so schüchtern – warum beehren Sie uns nicht mit einer kleinen Kostprobe von Ihrem melancholischen Dänen, Sie unverschämter, ungezogener Köter?«
    Die Zuschauer applaudierten wie wild, trampelten mit den Füßen und pfiffen und drängten ihn zu einer Darbietung. Bendigo salutierte Reverend Day mit seinem Schwert und antwortete dem Publikum mit einem gnädigen Winken. Dann trat er mitten in der Luft einen Schritt zurück und senkte den Kopf: ein Augenblick der inneren Betrachtung, der Schauspieler, der sich auf seinen Auftritt vorbereitete. Das Publikum verstummte.
    Bendigo drehte sich um; er war in seine Rolle geschlüpft und dümpelte dort oben wie ein Korken auf dem Wasser. Das eng geschnürte Korsett marterte seine Stimme zu einer gequetschten Parodie auf seinen vollen Bariton, und er rief: »Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.«
    Reverend Day lehnte sich auf die Brüstung seiner Loge, verschlagene Langeweile im Blick; er stützte das Kinn in die Handfläche und trommelte sich mit den Fingern auf die Wange, während er mit der anderen Hand müßig in der Luft herumwedelte.
    Als Reaktion auf Days Gesten hob Bendigo nach jeder Zeile seines Monologs das Schwert und schlug sich damit wild auf einen Körperteil; nichts blieb verschont: Arme, Beine, Rücken, Brust, Hals, Gesicht. Jeder Hieb riß eine klaffende Wunde.
    »Ob’s edler … im Gemüt … die Pfeil’ und Schleudern … des wütenden Geschicks erdulden … oder, sich waffnend … gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden.«
    Eileen wußte, daß die Klingen für die Bühnengefechte gründlich stumpfgeschliffen wurden, aber Rymer schlug mit übermenschlicher Kraft auf sich ein. Sein Blut regnete auf das Publikum herab, aber die Weißhemden zeigten keine Reaktion; sie starrten in die Höhe und hoben nicht einmal die Hände, um die

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