Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
Tatsache bewusst waren, dass ihre Position nicht die stabilste war. Und dann gab es noch die anderen Kinder der Politik, die es weiter bringen wollten als ihre Eltern und deshalb päpstlicher waren als der kommunistische Papst. Während der Kulturrevolution hatten sie ihre Mao-Bibeln so hoch gehalten wie die Erwachsenen. Und davor, in der gescheiterten ›Hundert-Blumen‹-Bewegung – die vielen Intellektuellen, die im ersten Jahrzehnt des Mao-Regimes mit ihrer Meinung hinter dem Berg gehalten hatten, zum Verhängnis geworden war –, hatten sie den Mund gehalten und dafür die Ohren nur umso weiter aufgesperrt. Damals hatten sich nämlich viele durch Maos Aufforderung, mit ihren Verbesserungsvorschlägen an die Öffentlichkeit zu treten, dazu verleiten lassen, ganz offen ihre Meinung zu sagen, womit sie allerdings nur ihre Hälse unter das Richtschwert legten, das wenige Jahre später in der brutalen, ungeheure Menschenopfer fordernden Kulturrevolution niedersauste.
Die gegenwärtigen Politbüromitglieder hatten auf zweierlei Weise überlebt. Zum einen waren sie von ihren Vätern und von dem Rang, der mit einer so hohen Abstammung einherging, geschützt worden. Zum anderen waren sie sehr deutlich gewarnt worden, was sie sagen durften und was nicht, und hatten deshalb bei ihren Äußerungen immer größte Vorsicht walten lassen. Sie hatten in der Öffentlichkeit nur kundgetan, es seien die Ideen des Vorsitzenden Mao, die China wirklich brauche, während alle anderen, wenn auch vielleicht in einem engen intellektuellen Rahmen durchaus interessant, insofern gefährlich seien, als sie Arbeiter und Bauern vom Wahren Weg Maos ablenkten. Und als deshalb das Richtschwert, geführt von der Mao-Bibel, fiel, gehörten sie zu den Ersten, die dieses Büchlein mit sich trugen und anderen zeigten und so zum größten Teil der Vernichtung entgingen. Einige von ihnen waren natürlich geopfert worden, aber niemand von den wirklich Cleveren, die sich jetzt die Sitze im Politbüro teilten. Es war ein brutales darwinistisches Ausleseverfahren gewesen, welches sie alle aufgrund der Tatsache überstanden hatten, dass sie ein wenig schlauer gewesen waren als die anderen. Und jetzt, auf dem Gipfel der Macht, die sie sich mit Klugheit und Vorsicht errungen hatten, war es für sie an der Zeit, das Erreichte zu genießen.
Die neue politische Führungsgeneration akzeptierte den Kommunismus so uneingeschränkt, wie andere Menschen an Gott glaubten, denn nichts anderes hatten sie gelernt. Und sie hatten auch ihre geistige Beweglichkeit nicht darin geübt, einen anderen Glauben zu suchen oder sich auch nur um Lösungen für jene Fragen zu bemühen, auf die der Marxismus keine Antwort hatte. Sie huldigten eher einem resignierten als einem enthusiastischen Glauben. In sehr ausgeprägter intellektueller Beschränkung aufgewachsen, hatten sie aus Angst vor dem, was sie draußen womöglich sehen könnten, nie einen Blick über den eigenen Tellerrand gewagt. In den letzten zwanzig Jahren waren sie gezwungen gewesen, den Kapitalismus innerhalb der Grenzen ihres Landes aufkeimen zu lassen, weil China Geld brauchte, um es zu mehr zu bringen, als bei dem fehlgeschlagenen Experiment in der Demokratischen Republik Korea herausgekommen war. China war um das Jahr 1960 von einer verheerenden Hungersnot heimgesucht worden und hatte langsam daraus gelernt. Die Chinesen hatten sie sich als auslösendes Moment für die Kulturrevolution zunutze gemacht und auf diese Weise aus einer selbst verschuldeten Katastrophe politisches Kapital geschlagen.
Sie wollten, dass ihre Nation eine große Nation wurde. Grundsätzlich betrachteten sie sie bereits als eine solche, auch wenn ihnen nicht entging, dass andere Nationen diese Auffassung nicht teilten, weshalb sie wiederum Mittel und Wege suchten, diese törichte Fehleinschätzung des Rests der Welt zu korrigieren. Dazu war Geld nötig, aber Geld hieß Industrie, und Industrie hieß Kapitalismus. Das war etwas, was sie schon vor den dummen Sowjets im Norden und Westen ihres Landes begriffen hatten. Und deshalb war die Sowjetunion zusammengebrochen, während es die Volksrepublik China immer noch gab.
Zumindest glaubten sie das alle. Sie blickten, wenn sie sich überhaupt einmal dazu herabließen, in eine Welt hinaus, die sie zu verstehen vorgaben und der sie sich überlegen fühlten, und sei es aus keinem anderen Grund als ihrer Hautfarbe und ihrer Sprache. Die Ideologie war in ihrer Selbsteinschätzung zweitrangig –
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