Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
1965. Genau so. Mit dem wesentlichen Unterschied, daß ihr Kind nicht überlebt hatte. Es war gestorben. Mit nur drei Monaten.
»Liv Volter Hansen«, murmelte Hanne dem gelben Kaninchen zu; es hatte unwahrscheinlich große Vorderzähne aus Frottee, deren untere Kanten sich munter und unnatürlich umbogen.
»Was hast du gesagt?« schluchzte Karen ein wenig ruhiger. »Liv was?«
Hanne lächelte und schüttelte den Kopf.
»Ich mußte an Birgitte Volters Kind denken. An das tote Kind. Birgitte Volter muß ganz entsetzlich …«
»…gelitten haben«, vollendete Karen den Satz und setzte sich mit großer Mühe im Bett auf. »Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.«
Sie lächelte schwach und konnte sich offenbar zusammenreißen.
»Ich weiß ja, daß die Hölle los ist«, sagte sie. »Das habe ich eben in den Nachrichten gehört.«
»Ich war vorhin im Untersuchungsgericht, ein solches Presseaufgebot habe ich noch nie gesehen. Die erste Festnahme in diesem Fall … die rasten aus. Nimm es als Kompliment, daß Håkon dabeisein mußte. Das nächste Kind kommt dann hoffentlich, wenn gerade keine Ministerpräsidentin ermordet worden ist.«
»Es gibt kein nächstes Kind«, stöhnte Karen und lächelte dann. »Kommt nicht in Frage. Aber bedeutet das, daß dieser Fall … ist er aufgeklärt?«
»Das wäre vielleicht übertrieben. Aber wir sind doch ein gutes Stück weitergekommen.«
Hanne schaute sich kurz um. Die Frau im Nachbarbett hatte Besuch vom Vater ihres Kindes, sie schmiegten ihre Gesichter aneinander und waren über dem hellblauen Bündel in ein leises Gespräch vertieft. Die Frau im übernächsten Bett war dunkelhäutig und hatte fünf Erwachsene und zwei kleine Kinder zu Besuch. Die Kinder krochen auf ihrem Bett herum und machten einen Höllenlärm. Hanne stand auf, ging auf die andere Seite des Bettes, kehrte dem restlichen Raum den Rücken zu und erzählte dann leise von den Ereignissen des Vortags.
»Billy T. war von der Hausdurchsuchung total enttäuscht. Sie haben einen Haufen Waffenliteratur, allerlei dubiose Zeitschriften und vier registrierte Waffen gefunden. Und das war alles. Abgesehen von einem kleinen Detail, das für Billy T. nicht genug war, über das Håkon sich aber ungeheuer gefreut hat. Ein Adreßbuch. Ein kleines rotes Adreßbuch, und unter H wie Håkonsen war Brage aufgeführt, mit Adresse, ohne Telefonnummer. Und damit haben wir …«
Sie beugte sich über ihre Freundin und konnte trotz der Erschöpfung an Karens Augen sehen, wie interessant sie das alles fand. Hanne zählte an ihren Fingern auf:
»Erstens haben wir Brages Mordpläne und seine riesige Waffensammlung. Zweitens: Auch wenn er leugnet, den Wächter gekannt zu haben, so hat er doch im Verhör behauptet, Dinge zu wissen, die er nicht wissen könnte, wenn er nicht irgend etwas mit diesem Burschen zu tun gehabt hätte. Er hielt sich für clever, hat sich aber auf diese Weise ziemlich verquatscht.«
Sie kicherte, strich sich die Haare hinter die Ohren und tippte mit einem Mittelfinger auf die Bettdecke.
»Drittens ist das Adreßbuch ein Beweis dafür, daß sie sich gekannt haben. Und der Wächter ist …«
Sie unterbrach sich und setzte sich gerade.
»Der Wächter war die ganze Zeit die beste Spur. Wenn er Birgitte Volter umgebracht hat, können wir die Frage vergessen, die der Polizei solches Kopfzerbrechen macht: Wie konnte jemand in einen Raum gelangen, der so gut wie versiegelt war? Er war da. Und er hatte Waffen.«
»Aber wie hat er diesen Revolver an sich gebracht, der doch Volters Sohn gehört hat?«
»Du beeindruckst mich. Gute Frage. Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls ist der Wächter die beste Spur, und jetzt …«
Hanne schaute auf die Uhr und lächelte.
»Und jetzt zittert Brage Håkonsen vor dem Untersuchungsrichter, während dein brillanter Ehemann … nein, Ehemann ist er ja nicht, dein brillanter Lebensgefährte … während Håkon einen Richter davon überzeugt, daß ausreichende Verdachtsmomente bestehen.«
»Aber ihr habt doch mehr als nur das«, sagte Karen und nahm sich den Lappen von der Stirn.
»Soll ich den noch mal naß machen?«
»Nein, danke. So langsam nähert ihr euch also einer Anklage?«
»Nein«, sagte Hanne. »Von einer Anklage sind wir noch ziemlich weit entfernt. Das müßtest du wissen. Denn …«
»Kaja könnte recht haben«, sagte Karin leise. »Vielleicht sagt sie ja die Wahrheit.«
Hanne streckte die Hand nach dem Babykorb aus und zog das Kaninchen heraus. Sie
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