Im Zweifel suedwaerts
am Boden des Topfes. »Wo warst du eigentlich die ganze Nacht?«
»Unterwegs. Ich hab ein paar Jungs kennengelernt, die parken in einer anderen Bucht hier in der Nähe, und da konnte ich auch pennen. War irgendwie lustiger als hier.« Sand rieselte aus dem Handtuch, während sie sich abtrocknete. »Tut mir leid, aber so ist es nun mal, Schätzelein.«
Es war nicht ganz klar, ob sie sich dafür entschuldigte, dass sie sich einfach so von der Reisegruppe abgesetzt hatte, oder dafür, dass wir jetzt wieder fegen mussten. War auch egal – beides.
Lucy setzte sich auf. »Hast du Karol gesehen?«, fragte sie Betty.
Die knappe Antwort lautete: »Nö.«
Wir sahen Karol auch im Verlauf des restlichen Morgens nicht wieder. Oder Viktor, aber den übersah man ohnehin meist, und um ihn ging es Lucy auch gar nicht, was daran liegen mochte, dass es nicht seine Zunge gewesen war, die sich den vergangenen Nachmittag über in ihrem Mund befunden hatte. Wie ein Hund, der vor dem Supermarkt auf die Rückkehr seines Besitzers wartet, hockte Lucy vor dem Busfenster und starrte die menschenleere Straße hinab. Betty und ich rauchten jede drei Zigaretten und tranken zwei Becher Tee in der Zeit, die wir den Polen gaben, sich wieder am Bus einzufinden. Aber sie kamen nicht. Lucy wirkte äußerst bedrückt. Der Wind pfiff, der Regen prasselte, und Bettys Dreads rochen streng.
»Deine Haare müffeln.«
»Trocknungsprozess. Da musst du leider durch.«
Ich überlegte, ob ich noch eine Zigarette rauchen sollte, entschied mich aber dagegen, weil ich schon von der letzten Kopfschmerzen bekommen hatte. Mit einem Seufzer der Ungeduld setzte ich dem Warten ein Ende. »Mir reicht’s. Wir fahren.«
Lucy warf mir einen flehenden Blick zu: »Aber wir können Karol doch nicht einfach so hier zurücklassen!«
»Der kommt schon klar.« Betty stand auf und kletterte über die Vorratsbox auf den Fahrersitz. Im Hintergrund lief »No Rain« von Blind Melon. Schön wär’s.
»Aber wenn er zurückkommt, und wir sind weg? Was denkt er denn dann?«
»Dass wir nicht länger warten wollten, vermutlich.« Ich erhob mich ebenfalls von der Matratze, blieb aber neben Lucy stehen und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Einen Tag zuvor wäre ich von ihrem Verhalten noch genervt gewesen. Heute, nachdem ich ihre Geschichte gehört hatte, hatte ich so viel Mitleid mit ihr, dass ich ihr eigentlich jeden Gefallen getan hätte. Aber hier stehen bleiben, im Regen, in Biarritz, in unserem Urlaub, wegen eines äußerst suspekten polnischen Anhalters, das kam nicht infrage, das konnte ich auch Betty nicht antun. Zudem war ich verwirrt. Denn in all das, was Lucy mir erzählt hatte, passte ihre Karol-Fixination, wie Betty es genannt hätte, irgendwie nicht rein. Im Gegenteil. »Er ist doch nur ein Anhalter, Lucy, nur irgendein Kerl, den wir auf einem Rastplatz mitgenommen haben.«
»Er hat mich geküsst«, erwiderte sie trotzig.
»Manche Männer interpretieren in so einen Kuss einfach nicht so viel hinein.« Ich sah, wie ihre Augen glasig wurden. Dabei hatte ich noch versucht, meine Meinung möglichst diplomatisch zu umschreiben. Aber in diesen Dingen war ich leider nicht sonderlich geschickt.
Lucy drehte ihren Kopf weg und starrte aus dem Fenster. »Ich bin schon wieder auf so einen reingefallen, oder?«
»Ach, reingefallen würde ich das jetzt irgendwie nicht nennen …«
»Ich dachte, ich probier es einfach mal aus. Jetzt, wo Hannes …« Die Tränen. Da waren sie. Innerhalb kürzester Zeit war Lucys Gesicht rot und nass.
»Nicht schon wieder …«, murmelte Betty in der Fahrerkabine.
» Ein Kuss, hab ich gedacht, ein Kuss!«, rief Lucy schluchzend. »Er war so nett und so aufmerksam, und er mochte meine Haare!«
»Zu Recht, Lucy, zu Recht.« Ich tätschelte unbeholfen ihre Schulter. »Aber jetzt fahren wir weiter und suchen uns einen schönen Strand in der Sonne, hm? Und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Aber sie schien mich gar nicht gehört zu haben. »Wie konnte ich nur so dumm sein?«, heulte sie. »Er hat mich die ganze Zeit angelogen. Er hat es mit mir gar nicht ernst gemeint. Er wollte mich gar nicht!«
»Ach, Lucy …«, begann ich, aber Betty hatte genug. Genug für den Rest des Urlaubs. Sie drehte sich auf dem Fahrersitz nach hinten und sah Lucy und mich so streng an, wie sie es nicht einmal mit Max getan hatte, als er die Hochzeitstorte meiner Mutter zerstört hatte. Und das empörte mich ein wenig, aber ich traute mich nicht,
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