Immer verlasse ich dich
befürchte ich, daß er zerbrechen wird wie Porzellan, wenn ich nur
etwas fester drücke.
Mein Blick begegnet dem von Sam. Das
Blau seiner Augen ist blasser geworden, lebloser, und ich weiß, er hat meine
Bestürzung mitbekommen. Wir lächeln beide künstlich, weil wir eigentlich weinen
wollen.
Nach der üblichen Begrüßung ziehen wir
zur Küche weiter und setzen uns an den Tisch, während Kip den Kaffee macht. Tom
und Sam sind jung genug, ihn zu trinken, ohne daß er sie die ganze Nacht
wachhält. Ich nehme eine Limonade ohne Koffein.
»Tut mir wirklich leid, das mit deiner
Freundin Meg«, sagt Tom.
Ich danke ihm mit einem Nicken.
»Wir wissen, wie das ist«, sagt Sam.
»Ja, ich weiß.«
Tom sagt: »Wir haben über sechzig Leute
verloren, seit es angefangen hat.«
Sechzig. Himmel. Wir haben auch einen Teil
unserer Freunde an Aids sterben sehen, wie auch an anderen Sachen. Und nun Meg.
Aber die Vorstellung, daß sechzig Frauen aus unserer Bekanntschaft an einer
Krankheit sterben, mit der sich fast niemand abgeben möchte, ist undenkbar.
Kip kommt zu uns, während der Kaffee in
der Maschine durchläuft. Sie ist rettungslos munter. Auf diese Weise kann sie
am besten damit umgehen, und ich darf sie deshalb nicht verurteilen. Hey,
vielleicht habe ich doch schon etwas gelernt.
Ich versuche, Tom nicht zu oft
anzuschauen, doch das ist auch nicht das Richtige. Ich kann mich nicht erinnern,
mir schon einmal wie ein solches Trampel vorgekommen zu sein, so hilflos.
Und dann bringt er mich vollends aus
der Fassung: »Lauren, ich weiß, wie ich aussehe.« Er sagt es sanft, freundlich.
Ich will protestieren. Tu’s nicht.
Statt dessen zwinge ich mich zu lächeln.
Sam legt den Arm um Tom. »Wir haben
keine Angst, darüber zu sprechen. Oh, anfangs schon. Es gab eine Zeit, da haben
wir es beide völlig verdrängt, aber das liegt jetzt hinter uns. Stimmt’s,
Liebling?«
Tom nickt. »Verdammt schwer, es zu
verdrängen, wenn du zumindest beim Rasieren jeden Tag in den Spiegel schauen
mußt.« Er grinst.
Wir lachen leise.
Dennoch ist es nicht leicht. Toms Haut
ist aschfahl. Die braunen Augen liegen tief in den Höhlen, wirken abwesend.
Seine Gesichtsknochen treten deutlich hervor, die Wangen sind so eingesunken,
daß sie sich bestimmt innen berühren. Der Halsausschnitt seines karierten
Flanellhemds paßt, doch ich weiß, daß es mindestens zwei Größen kleiner ist als
seine alten Hemden. Obwohl er keine Chemotherapie gemacht hat, ist sein Haar
dünn.
Kip steht auf, um den Kaffee zu holen,
gießt beiden eine Tasse ein. Als Tom, ein Linkshänder, seine nimmt, werde ich
auf seine Hand aufmerksam, Finger wie Bleistifte, loser Trauring.
Sam sagt: »Ich schätze, wir sagen es
euch gleich, wir sind im Grunde hier, um eine spezielle Ärztin aufzusuchen.«
»Wie meinst du das?« fragt Kip.
Sam, der gesund aber müde aussieht,
fährt sich mit der Hand durch sein langes schwarzes Haar, streicht über seinen
kurzen Bart. »Versucht, uns nicht zu verurteilen, ja?«
Kip und ich schauen einander an. Das
gefürchtete V-Wort, wie ich es für immer nennen werde.
Das entgeht Tom nicht, und er fragt,
warum wir uns so angesehen haben.
»Es hat nichts mit euch zu tun«, sagt
Kip, »und es ist zu schwierig, es zu erklären.«
Ich kann sehen, daß sie nicht ganz
glauben, daß es nur mit uns zu tun hat.
»Um es kurz zu machen, Jungs, man hat
mir vorgeworfen, andere zu schnell zu verurteilen.«
»Wer? Du?« sagen Tom und Sam wie in
einer Komikernummer.
»Verrückt, nicht wahr?« sage ich.
Wir lachen alle.
Die Sache entwickelt sich zu einem
Alptraum. Aber es ist nicht der passende Zeitpunkt, sie zu fragen, ob sie mich
auch für voreingenommen halten oder wann sie es einmal miterlebt haben.
Zurückhaltung ist gefragt. »Obwohl ich von Natur aus offen und tolerant bin,
verspreche ich, nicht voreingenommen zu sein.«
»Gut«, sagt Sam. »Weil wir nämlich
wahre Wunderdinge über diese Frau gehört haben.«
»Was denn?« fragt Kip.
Ich kann an dem Klang dieses einen
Wortes erkennen, daß sie skeptisch ist. Ist das nicht ein anderer Ausdruck für
voreingenommen sein?
»Nun«, sagt Tom, »sie heißt Dr. Woo,
und sie benutzt alte Kräuterrezepturen. Ein Freund von uns, der Kaposi hat,
läßt sich seit etwa fünf Jahren von ihr behandeln, und er ist immer noch bei
uns.«
»Und wir wissen noch von anderen«, fügt
Sam hinzu. »Es ist verdammt schwer, einen Termin bei ihr zu bekommen, aber wir
haben einen, übermorgen.«
Sie scheinen
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