Imperator
ein entfernter Verwandter war. Aber der Junge wirkte misstrauisch, vielleicht weil Thalius sich so offensichtlich für die Botschaft interessiert hatte, die er auf dem Rücken trug, und nicht für ihn selbst.
Im Kopf des Jungen schien ein großes Durcheinander zu herrschen. Audax hatte sicherlich keine Ahnung, wer der Kaiser war. Warum sollte er auch? Die Rohlinge mit den Peitschen, die Herrscher über sein Leben in der Mine, hatten weitaus mehr Macht über ihn gehabt als Konstantin, sogar die Macht über Leben und Tod. Für einen großen Teil seines jungen Lebens hatte er nicht einmal den täglichen Kreislauf von Licht und Dunkelheit gesehen, und in weiten, offenen Landschaften, wenn sie aufgegebene Felder oder Moorland durchquerten, kauerte er sich meist zusammen, als sehne er sich nach der schützenden Umschließung der schmutzigen Wände, die ihn gefangen gehalten hatten.
Audax wich Tarcho jedoch nicht von der Seite. Der große, kräftige Soldat achtete seinerseits darauf, dem Jungen gegenüber niemals die Stimme zu erheben. Thalius dachte, mit Tarchos Unterstützung bestünde vielleicht doch noch Hoffnung für den Jungen; er war noch jung und hatte Zeit. Und was Tarcho betraf,
so schien er diesem hilflosen, halb geformten Kind gegenüber eine Art Fürsorgepflicht zu entwickeln. Was sagte das über Tarcho aus? Dass er Kinder hätte haben sollen, dachte Thalius.
Und diesen zerbrechlichen Jungen wollte er also einem Kaiser vorstellen, dachte er, und seine Nervosität wuchs, je näher sie Rutupiae kamen.
In gewissem Sinn standen ihm Türen offen. Als er erfahren hatte, dass Konstantin nach Britannien zurückkehrte, hatte er einem Freund eines Freundes eines Freundes am kaiserlichen Hof geschrieben, einem gewissen Ulpius Cornelius, und auf typisch römische Weise einen Gefallen eingefordert: Er bat um eine Audienz während des Aufenthalts des Kaisers. Konstantin hatte seine Laufbahn als Soldat begonnen, und infolgedessen waren viele seiner Berater Soldaten. Cornelius war keine Ausnahme; früher ein hochrangiger Offizier im Heer, diente er nun als Präfekt unter Konstantin. Er gehörte zu dem inneren Kreis, der die Geschicke des Reiches lenkte.
Zu Thalius’ nicht geringer Überraschung hatte dieser Ulpius Cornelius seinen Brief mit der Einladung beantwortet, kurz nach Konstantins Landung zum Hof in Rutupiae zu kommen. Und darum reiste Thalius nun dorthin, um einem Kaiser gegenüberzutreten – nicht zu seinem eigenen Vorteil, nicht einmal zum Nutzen des Reiches, sondern für Jesus Christus.
Aber was würde er zu Konstantin sagen? Abgelenkt von seinen eigenen tiefschürfenden Überlegungen und einer immer stärker werdenden Furcht vor
seiner Begegnung mit dem Kaiser, gelang es Thalius nicht, das Prophezeiungs-Akrostichon auf der Haut des armen Audax zu enträtseln; das kompakte Buchstabenmuster verhöhnte seinen alternden Verstand.
VI
Kurz vor Rutupiae kamen Thalius und seine Begleiter nur noch im Schneckentempo voran, denn die Straße war voller Wagen, Pferde und Fußgänger – Beamte und Bürger, reich und arm, unterwegs aus geschäftlichen Gründen oder um einmal im Leben einen Kaiser aus Fleisch und Blut zu sehen.
Als sie zum ersten Mal die See erblickten, die im Osten schimmerte, hob sich Thalius’ Stimmung wie immer, wenn er das Meer sah. Es hatte etwas beeindruckend Urtümliches an sich, etwas noch weitaus Unbezähmbareres als das Land, das man immerhin in landwirtschaftlich genutzte Flächen aufteilen und mit Städten bestücken konnte. Solche Gefühle mochten seltsam sein für einen Stadtbewohner wie Thalius, einen Mann, dessen ganzes Leben vollauf vom Fortbestand der Ordnung abhing, aber so empfand er nun einmal.
Natürlich hatte sich sogar der Ozean verändert. Früher hatten die Britannier ihn liebevoll als einen gewaltigen Graben betrachtet, mächtiger als alle Werke Hadrians; er hatte die Barbaren ferngehalten, die in Gallien und im römischen Germanien solche Verwüstungen anrichteten. Aber jetzt war der Ozean für die
Banditen weniger eine Barriere als vielmehr eine Wasserstraße zur Insel.
Thalius hatte gelesen, dass diese »Sachsen« aus Nordgermanien durchaus ihre Gründe für die gefährliche Reise nach Britannien hatten. Ihre schmalen heimatlichen Küstenländer waren zwischen gewaltigen Volksbewegungen aus dem ferneren Osten – dem geheimnisvollen Innern Asiens – und dem Ozean selbst eingezwängt, der Jahr für Jahr unerbittlich anstieg. Folglich veränderte sich die Welt
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