In deinen Armen
glaube, mit ihr verheiratet zu sein. Sie kannte die Wahrheit. Er war ihr Ehemann – Stephen MacLean, Taugenichts, Spieler, Spitzbube. Vielleicht hatte er sich selbst etwas vorgelogen, als er behauptet hatte, sich an nichts zu erinnern. Stephen MacLean war schon immer die Sorte Mann gewesen, der, wenn die Wahrheit gefordert war, lieber log. Doch etwas an ihm – der kurze Anflug von Panik, der irrationale Zorn – ließ sie glauben, dass er wenigstens in dieser Sache die Wahrheit sprach.
Sie schuldete ihm nichts bis auf die Fürsorge, für die sie bezahlt wurde – und er bedurfte der Fürsorge. Er war gerade erst zu Bewusstsein gekommen. Er konnte ihnen jeden Augenblick wieder entgleiten.
Enid ließ sich von Mrs. Brown den Becher geben und setzte sich neben ihn aufs Bett. Sie legte den Arm hinter seinen Kopf und hob den Becher an seine Lippen. Er trank die Brühe so gierig wie zuvor schon das Wasser, und Enid reichte den Becher zum Nachgießen an Mrs. Brown zurück.
Er blickte zu ihr auf, dann in die Runde. »Und jetzt, meine Liebe, lässt du mich jetzt ein Bäuerchen machen?«
Die Männer lachten und warfen die Last ab, einen der ihren wie ein Baby gefüttert werden zu sehen.
Die Frauen tauschten erboste Blicke.
Enid nahm den Becher entgegen und hielt ihn für ihn. Diesmal trank er langsamer und bei weitem vorsichtiger. Sie beobachtete ihn, wie sie ihn die letzten Wochen über beobachtet hatte, hoffend, dass er alles bei sich behielt, und betend, dass er wieder zu sich kommen würde, nachdem er geschlafen hatte.
Auch jetzt, da er bei Bewusstsein war, konnte sie die Wachsamkeit nicht ablegen.
Aber es tat Männern nicht gut, der Lebensmittelpunkt anderer Menschen zu sein. Männer hatten ohnehin schon übertriebene Vorstellungen von der eigenen Bedeutung.
Mr. Throckmorton sah sich im Kreise seiner Leute um. »Sie wissen es bereits, aber ich möchte Sie trotzdem nochmals auf die Notwendigkeit absoluten Stillschweigens hinweisen. Über MacLeans Rettung darf kein Wort nach draußen dringen. Der Hochzeitstermin rückt näher. Wir werden auf Blythe Hall jede Menge Gäste haben. Und ein einziges Versehen könnte sein Leben in Gefahr bringen.«
Alle schauten ernst drein. Alle nickten. Alle bis auf MacLean, der Throckmorton mit spöttischem Interesse beobachtete.
Und auch Enid hatte nicht genickt. Stattdessen fragte sie sich einmal mehr, warum ihrem Ehegatten derartige Schutzmaßnahmen zuteil wurden.
»Ich würde gerne allein mit MacLean sprechen«, sagte Throckmorton.
Sally war die Erste, die knicksend davoneilte. Ihr folgte Mrs. Brown. Jackson verbeugte sich noch einmal, bevor er die Treppe hinunterging. Mr. Kinman strebte hinaus, blieb aber kurz neben Harry stehen, der reglos dastand, die braunen Augen erst nüchtern auf Throckmorton gerichtet, dann auf Enid.
Die Art, wie er sie beide ansah, war Enid unangenehm. Sie wurde sich der Tatsache bewusst, dass MacLeans Kopf in ihrer Armbeuge ruhte. Sie musste besitzergreifend wirken … und liebevoll.
Sie versuchte, den Arm fortzuziehen.
Doch MacLean griff nach ihrer Hand und hielt sie fest umklammert.
Natürlich, sie hätte sich jederzeit losmachen können. Seinen siechen Muskeln fehlte jede Kraft. Aber so wenig sie auch von diesem MacLean wusste, er hätte sicherlich nicht kampflos aufgegeben. Und eine solche Szene wäre unwürdig gewesen.
Mr. Kinman schlug Harry auf die Schulter. »Kommen Sie, Mann. Zur Feier des Tages trinken wir einen. Aber dann heißt es, zurück an die Arbeit. Wir haben noch viel zu tun bis zur Hochzeit.«
Mit einem letzten, wohlbemessenen Starren ging der Pförtner die Treppe hinunter.
Enid war im Begriff, den Becher abzustellen, um gleichfalls gehen zu können, doch MacLean drückte sacht ihre Finger und forderte Throckmorton mit seinem Tonfall heraus: »Du nicht, du bist meine Frau.«
»Jetzt wäre ich auf einmal deine Frau«, spöttelte Enid. »Ein ziemlicher Geisteswandel innerhalb von nur einer Stunde.«
»Natürlich sind Sie seine Frau«, sagte Throckmorton. »Und Sie sollten bleiben.«
MacLean rieb die Wange an ihrer Hand. »Siehst du, jetzt haben wir es von höchster Stelle: Wir sind verheiratet.«
Enid hätte gerne etwas Kluges erwidert, war aber zur Randfigur degradiert worden, während die beiden Männer einander abschätzend musterten. Es verblüffte sie, welche Konzentration und welches Machtbewusstsein diese beiden ausstrahlten. Natürlich verfügte Mr. Throckmorton über eine unerschöpfliche Ausstrahlung an
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