In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
verfügte, bevor er den Mund aufmachte.
»Bist du’eute gekommen, um zu lehren oder zu lernen?«
»Ich habe eine hypothetische Frage, und du, oder einer der Studenten, kann sie mir vielleicht beantworten.«
Jean legte die Stirn in tiefere Falten, zog einen Hocker unter der Laborbank heraus und setzte sich. »Isch bin bereit«, sagte er, als nähme er an einem Quiz teil.
Anya saß an der Chemiebank und kam sich wieder wie eine Studentin vor. Diese Tafeln, Spülbecken und Gashähne hätten sich in jeder Universität oder Highschool befinden können. Sie waren eigentümlich tröstlich.
»Ich habe mit einem Mordfall zu tun, bei dem auf eine Frau in ihrem Haus mehrfach eingestochen wurde. Bei dem Verdächtigen zu Hause fand sich ein T-Shirt mit DNA, die sich mit dem Blut vom Tatort deckt. Seine Mutter sagt aus, der Verdächtige habe das T-Shirt aus zweiter Hand gekauft, sie habe es gewaschen, der Verdächtige hätte es aber nie getragen.«
»Wie viel Blut war auf dem T-Shirt?«
»Genau das ist das Interessante. Offenbar nur winzige Spuren, die sich ebenso auf einem weiteren, im selben Haus sichergestellten T-Shirt fanden.«
»Ah, isch sehe das Problem. Deine Frage ist, wie ist das möglich? Wieso ist da so wenig Blut? Jemanden erstechen ist schmutzig, überall spritzt Blut. Richtig?«
Mit beiden Händen veranschaulichte der Wissenschaftler die Verteilung des Bluts.
Anya lächelte. »Eigentlich habe ich mich gefragt, ob es nicht im Labor einen Fehler gegeben haben könnte, eine Kontamination der Proben vielleicht?«
»Es gibt andere mögliche Erklärungen«, sagte er und legte sich die Hände auf die Brust, ohne das Stirnrunzeln aufzugeben. »Das Mord-T-Shirt könnte auf die anderen T-Shirts gelegt worden sein, im Wäschekorb oder im Schrank vielleicht. Komm, wir sehen uns das an.«
Anya folgte ihm durch einen gefliesten Korridor, von dem beidseitig Büros abzweigten. Er hob nicht den Kopf, als sie eine Gruppe von Studenten passierten, die schwer an ihren Rucksäcken zu tragen hatten.
Hinter einer Ecke klopfte er an eine Tür. Die Tür wurde von einem Keil offengehalten. Das Zimmer war noch vollgestopfter als Anyas Büro im Zentrum für sexuelle Übergriffe. Die eine Seite wurde von einem Regal eingenommen, so dass der Raum ursprünglich wohl einmal als Besenkammer gedient hatte.
Eine Frau, die sich das lange braune Haar mit einem Bändchen aus dem Gesicht hielt, arbeitete an einem Laptop. »Einen Moment noch, ich muss nur schnell Sicherungskopien machen.« Sie speicherte etwas auf einer Diskette und zog sie heraus. Dann wandte sie sich um, und ein warmes Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. »Professor, verzeihen Sie, ich habe gar nicht gesehen, dass Sie das sind.« Eifrig darauf bedacht, ihm zu Diensten zu sein, machte sie Platz.
»Dies ist Dr. Crichton, eine Rechtsmedizinerin mit einem interessanten Fall. Doktor, dies ist Shelly Mann, eine unserer Doktorandinnen. Sie kann womöglich’elfen.«
Noch in der Tür erläuterte Jean die Sachlage, und Shelly bekam große Augen.
»Ihre Forschungen könnten früher als gedacht in einer polizeilichen Ermittlung zur Anwendung kommen«, sagte er, und einen Moment lang schwang so etwas wie Vaterstolz in seiner Stimme mit. »Führen Sie Dr. Crichton doch bitte ins Versuchslabor.«
Anya kam sich vor, als solle sie der Präsentation einer streng geheimen Waffe beiwohnen. Tatsächlich aber betraten sie ein Labor mit einem halben Dutzend Waschmaschinen.
Shelly entspannte sich, sobald sie gewohntes Umfeld betrat. Ihr Professor entschuldigte sich und verschwand im Korridor.
»Meine Dissertation beschäftigt sich mit der Übertragung von genetischem Material beim Wäschewaschen.« Shelly griff nach einem schlichten, weißen T-Shirt. »Bei Spermien ist der Vorgang bekannt, Blut allerdings hat gänzlich andere Eigenschaften. Blut gerinnt und flockt mit dem Trocknen aus. Also habe ich zunächst sechs identische T-Shirts gekauft und jedes erst einmal gewaschen. Ich habe mir in den Finger gestochen und einige Bluttropfen auf das erste Shirt fallen lassen. Dann habe ich dieses T-Shirt zusammen mit einem Kontrollstück gewaschen.«
Die Doktorandin sprach rasch, so vertraut war sie mit ihren Experimenten.
»Nach dem Trocknen hatte sich ein wenig der DNA vom ersten T-Shirt auf das zweite übertragen. Sie sammelte sich in den Nähten. Ich wiederholte den Vorgang und stellte fest, dass bei weiteren Waschgängen immer kleinere Mengen auf die anderen Hemden übertragen
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