In den Armen der Nacht
Mienenspiel der jungen Frau: Die grimmige Entschlossenheit, mit der sie hergefahren war, verlor sich aus ihren Zügen, ihre Augen schimmerten verräterisch feucht. Sie wirkte mit einem Mal niedergeschlagen, als lastete ein zentnerschweres Gewicht auf ihrer Seele. Grundgütiger, er rechnete mit dem Schlimmsten.
»Glaubst du, er ist verletzt? Oder ob er später nachkommt?« In Zoranas Stimme schwang leise Hoffnung.
Sichtlich widerstrebend öffnete Tasya die Autotür und stieg aus.
Nein. Tasyas Miene und ihre Körperhaltung ließen keinen Raum für irgendwelche Hoffnungen.
Sein Sohn, das Baby, das er auf den Knien geschaukelt hatte, der Junge, den er zu Besonnenheit und Rücksichtnahme erzogen hatte, der Mann, der ein leidenschaftlicher Pilot gewesen war und dann Archäologie studiert hatte - war tot.
Das Mädchen kam ihnen entgegen und nötigte sich ein Lächeln ab. Dabei zitterten ihre Lippen.
Er blieb stehen und hielt Zorana, die zu ihr laufen wollte, am Arm fest.
Tasya trat zu ihnen, ihre großen blauen Augen ein Spiegel ihrer Resignation und tiefer Trauer.
O nein. Konstantine klammerte sich hilfesuchend an seine Frau.
Die junge Frau wühlte in ihrer Tasche, zog ein in Seidenpapier eingeschlagenes Päckchen heraus und wickelte es auf. Sie hielt ihnen die kleine Kachel hin.
Die zweite Ikone.
Am liebsten hätte er wütend darauf gespuckt. Der Preis dafür war zu hoch gewesen.
Mit zitternden Fingern nahm Zorana die Ikone an sich und betrachtete das Gesicht der Heiligen Jungfrau, den gekreuzigten Jesus, das schimmernde Blattgold und die Patina von mehr als tausend Jahren. Sie hob den Kopf. »Rurik?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
Tasya schüttelte den Kopf.
Als zöge das Gewicht der Ikone sie zu Boden, sackte Zorana lautlos in sich zusammen.
Ihr Mann wollte sie festhalten und fing sich gerade noch selbst, sonst wäre auch er gestürzt.
Tasya eilte an Zoranas Seite und half ihr auf.
Die beiden Frauen fielen sich schluchzend in die Arme.
Während er sie betrachtete, füllten sich Konstantines Augen mit Tränen, die über seine Wangen rollten.
Gut. Diese Tasya hatte seinen Sohn geliebt. Jetzt tröstete sie seine Frau.
Also fasste Konstantine einen Entschluss: Er wollte sie in seine Familie aufnehmen. Die Wilders würden sie lieben wie ein eigenes Kind.
Tasya saß an dem alten Schreibtisch in Ruriks kleinem Zimmer im Haus seiner Eltern.
Sie hatte ihre Fotos auf seinen Computer geladen und inspizierte sie einzeln auf dem Bildschirm, während sie ihren Bericht über die Grabung und die Funde formulierte. Sie hätte die Bilder wahnsinnig gern an National Antiquities gemailt, an ihren Verleger und an die Zeitschriften, die bereits eine neue große Story witterten. Sie hatte sich seit Jahren vorgenommen, Rache an den Varinskis zu üben - diese Chance ließ sie sich nicht so einfach entgehen. Mit den Beweisen, die sie inzwischen gesammelt hatte, hätte sie diesem Killer-Clan einen Schuss vor den Bug geben können, von dem er sich nie mehr erholt hätte.
Ungeachtet der Tatsache, dass Ruriks Familie ihren Nachnamen in Wilder geändert hatte, waren sie Varinskis, und Rurik war einer von ihnen. Konstantine und Zorana hatten sie jedoch herzlich bei sich aufgenommen und verwöhnten sie wie eine eigene Tochter. Sie hatte die Ikone gefunden, und sie war Ruriks Freundin gewesen.
Ruriks Schwester Firebird war in Tränen ausgebrochen, als sie vom Schicksal ihres Bruders erfahren hatte. Sobald sie sich wieder gefasst hatte, war ihre praktischbodenständige Seite zum Vorschein gekommen, und sie hatte Tasya Sachen aus ihrem Kleiderschrank geliehen, bis die Internet-Bestellung eintraf. Sie war froh um die Gesellschaft der etwa gleichaltrigen jungen Frau und plauderte mit ihr über ihr Baby.
Die Ultraschallaufnahme zeigte einen Jungen. Sie hatte noch keinen Namen für den Kleinen. Sie hoffte,
dass das Baby nicht so schwer war, denn ihre Brüder hatten bei der Geburt jeweils knapp fünf Kilogramm gewogen.
Den Vater des Kindes erwähnte Firebird mit keinem Wort. Wer immer er war, er blieb der große Unbekannte. Tasya hatte anfangs auf einen One-Night-Stand mit Folgen getippt, war sich inzwischen aber nicht mehr so sicher. Zumal Firebird, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, entrückt aus dem Fenster schaute und sanft über ihren Bauch strich, dann malten sich Wut, Schmerz, Einsamkeit auf ihrem Gesicht. O ja, aus unterschiedlichen Gründen hatten Tasya und Firebird eine Menge gemeinsam.
Konnte Tasya die Fotos
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