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In den Fängen der Macht

In den Fängen der Macht

Titel: In den Fängen der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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erwartet werden konnte, für sie Munition bereitzuhalten. Es waren durchweg Vorderlader, aber mit glattem, nicht gezogenem Lauf. Einige waren alte Steinschlossmusketen, die viel öfter versagten und weit weniger zielgenau waren als die neuen Präzisionswaffen, die Breeland gestohlen hatte.
    Hester machte die Vorstellung des blinden Abschlachtens krank, das folgen würde, sobald aus dem Krieg eine offene Feldschlacht werden würde. Nach dem, was sie den Fetzen der jugendlichen Prahlerei, die sie hörte, entnahm, oder aus der Leidenschaft, die Union zu erhalten, schloss, konnte der Krieg nicht mehr weit entfernt sein.
    Sie hörte Bruchstücke von Unterhaltungen, wenn sie aufstand, um den Rücken zu strecken oder sich die Beine zu vertreten.
    Ein magerer, rothaariger Junge, der den Kilt der schottischen Hochlandbewohner trug, lehnte an einer Trennwand und unterhielt sich mit einem jungen Mann, der mit Kniehosen und Jackett bekleidet war.
    »Wir werden diese Rebellen im Nu vertreiben«, rief der Junge im Kilt hitzig. »Um nichts in der Welt werden wir es zulassen, dass sich Amerika spaltet, das sag ich dir! Eine Nation auf Gottes Erden, ja, das sind wir!«
    »Zur Ernte sind wir wieder zu Hause«, meinte der andere mit einem trägen und scheuen Lächeln. Dann erblickte er Hester und nahm eine straffe Haltung ein.
    »Pardon, Ma’am.« Er machte Platz, damit sie vorbeigehen konnte, und sie dankte ihm, während ihr Herz einen Sprung machte und sie sich vorstellte, in welches Vorhaben er sich in all seiner Unschuld stürzte. Sein magerer Körper, die von der Arbeit schwieligen Hände und seine schäbige Kleidung machten klar, dass er Armut sowie harte Arbeit kannte, doch vom Gemetzel einer Schlacht konnte er sich keinen Begriff machen. Das war etwas, wovon sich ein geistig gesunder Mensch keine Vorstellung machen konnte.
    Sie lächelte ihn an, sah einen Moment lang in seine blauen Augen und ging dann weiter.
    »Geht es Ihnen nicht gut, Ma’am?« Vielleicht hatte er den Schatten ihres Wissens gesehen und den Schmerz gespürt, den ihr dies verursachte.
    Sie zwang sich, fröhlich zu klingen. »Oh, nein. Ich bin nur ein wenig steif.«
    Auf dem Rückweg ging sie an einem älteren Mann vorbei, der am Mundstück seiner kalten Tonpfeife kaute.
    »Ich musste einfach gehen«, sagte er zu seinem bärtigen Gegenüber. »Wie ich die Sache sehe, bleibt einem keine Wahl. Wenn man an Amerika glaubt, muss man daran glauben, dass es ein Land für alle ist, nicht nur für Weiße. Es ist nicht richtig, menschliche Wesen zu kaufen und zu verkaufen. Einzig und allein darum geht es.«
    Zweifelnd schüttelte der andere Mann den Kopf. »Hab Cousins im Süden. Sind keine schlechten Leute. Wenn plötzlich alle Neger frei sind, wo sollen sie dann hin? Wer passt auf sie auf? Hat daran vielleicht mal jemand gedacht?«
    »Was tun Sie dann hier?«, fragte der erste Mann und nahm seine Pfeife aus dem Mund.
    »Es ist Krieg«, meinte der andere lapidar. »Wenn sie gegen uns kämpfen, werden wir gegen sie antreten. Außerdem glaube ich an die Union. Was ist Amerika anderes als eine Union?«
    Bedrückt von dem Gefühl der Verwirrung und der Sorgen, das in der Luft lag, kehrte Hester an ihren Platz zurück.
    Der Zug hielt in Baltimore, wo weitere Passagiere einstiegen. Als der Zug weiterfuhr, saß Hester am Fenster; sie hatte für eine Weile mit Monk Platz getauscht. Sie sahen beide auf die vorbeifliegende Landschaft hinaus. Ihnen gegenüber saß Philo Trace, der immer angespannter zu werden schien. Die Linien in seinem Gesicht wurden immer tiefer, und seine Hände verkrampften sich ineinander, und für Sekunden sah es so aus, als wollten sie etwas tun, dann schlangen sie sich erneut ineinander.
    Während sie aus dem Fenster sah, bemerkte Hester zum ersten Mal Wachposten, die die Eisenbahngleise bewachten. Zuerst nur vereinzelt, doch dann immer häufiger. Hinter ihnen sah sie die Armeelager, die sich farblos ausbreiteten und an Größe zunahmen, während sich der Zug in Richtung Süden bewegte.
    In New York war es schon heiß gewesen. Während sie sich aber Washington näherten, wurde die Hitze unerträglich. Die Kleider klebten an der Haut. Die Luft schien dick und feucht zu sein, zu schwer, um sie einzuatmen.
    Kurz bevor sie nach Washington selbst einfuhren, war das Brachland in den Außenbezirken von Zelten und marschierenden und exerzierenden Gruppen von Männern übersät, von weiß überdachten Planwagen und allen möglichen Arten von Karren und

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