In den Fängen der Macht
kniete.
Hester hatte eine Säge in den Händen und sägte durch den Unterarmknochen eines Mannes. Sie bewegte sich schnell, ohne das geringste Zögern. Es war keine Zeit, um sich ein Urteil zu bilden und die Sache genauer abzuschätzen. Sie musste dies alles schon einmal getan haben. Überall war helles, frisches Blut, auf Beinschienen und Bandagen auf dem Fußboden, es bildete Pfützen, färbte ihre Hände rot und bildete einen dunklen Fleck auf der Uniform über den Oberschenkeln des Mannes. Sein Gesicht war grau, als sei er bereits tot.
Sie fuhr mit der Arbeit fort. Der abgesägte Arm fiel zu Boden, und sie begann, die Blutung der Wunde zu stillen, indem sie einen losen Fleischlappen darüber legte, eine Kompresse so fest darauf presste, dass sie die Blutgefäße zusammendrückte. Während der ganzen Zeit sagte sie kein Wort. Monk beobachtete ihr angespanntes Gesicht, ihre zusammengekniffenen Lippen, den Schweiß, der über ihre Brauen perlte und über ihren Lippen stand. Einmal wischte sie sich das Haar mit dem Handgelenk aus den Augen.
Als sie fertig war und die Blutung gestoppt war, griff sie nach einem Stück Stoff, tauchte es in Wein und hielt es dem Mann sanft an die Lippen.
Seine Augenlider flatterten.
Sie gab ihm noch ein paar weitere Tropfen.
Er öffnete die Augen, wandte den Kopf, um den Blick auf sie zu richten, dann sank er erneut in Bewusstlosigkeit.
Monk hatte keine Ahnung, ober der Mann leben oder sterben würde. Er wusste auch nicht, ob Hester dies einschätzen konnte. Er sah ihr ins Gesicht, konnte es aber nicht ablesen. Sie befand sich in einem Zustand jenseits der Erschöpfung, sowohl körperlich als auch geistig. Sie war sich der Gegenwart anderer kaum bewusst, geschweige denn, dass er hier war, und doch war er von dem Wissen überwältigt, nie zuvor eine dermaßen schöne Frau gesehen zu haben. Sie war ihm völlig vertraut. Er kannte jeden Teil von ihr, hatte sie in den Armen gehalten, sie berührt, doch ihre Seele war etwas Eigenständiges, voller Wunder und unerforscht, etwas, was ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Gleichzeitig erschrak er, weil er die dunklen Gefilde in sich selbst kannte und das Gefühl hatte, sich ihrer und dem, was er in ihr zu sehen glaubte, niemals würdig erweisen zu können. Auch wusste er, dass er niemals die endgültigen Ausmaße seines Hungers ermessen könnte, den er danach verspürte, dass sie ihn ebenso lieben möge und er sich ihrer Liebe uneingeschränkt und vollkommen würdig erweisen könnte.
Hester drehte sich um und entdeckte ihn. Der Augenblick der Versunkenheit war zu Ende. Ihre Blicke trafen sich lange genug, um zu verstehen und Erleichterung zu verspüren. Sie sagte seinen Namen, lächelte und machte sich erneut an die Arbeit.
Er tat, was er konnte, um zu helfen, wobei er sich zunehmend bewusst wurde, dass er über keinerlei entsprechende Fertigkeiten verfügte. Er kannte nicht einmal den Namen der Instrumente oder die Art von Bandagen, die sie brauchte, und all das Blut und der Schmerz flößten ihm Grauen ein. Wie konnte jemand Tag für Tag, wochenlang, jahrelang, damit fertig werden… und trotzdem bei Verstand bleiben?
Er ging wieder nach draußen und entdeckte zu seinem Schrecken, dass sich die Schlacht genähert hatte. Es war nach fünf Uhr nachmittags, und die Streitkräfte der Union hatten den Henry Hill noch nicht einnehmen können – sie waren sogar noch weit davon entfernt. Die Rebellen stürmten den Hügel herunter, und der erbitterte Kampf kam immer näher. Staubwolken verschleierten die Details.
Er lief zurück in die Kirche.
»Der Kampf rückt näher heran!«, rief er schrill. »Wir müssen diese Männer evakuieren!«
Jetzt sah er auch den Chirurgen, bleich, der sich wie im Traum bewegte.
»Geraten Sie nur nicht in Panik«, schnappte er missmutig. »Es scheint näher zu sein, als es ist.«
»Kommen Sie doch und sehen Sie selbst, Mann!«, entgegnete Monk scharf, wobei er hörte, wie seine Stimme sich überschlug und fast außer Kontrolle geriet. »Die Rebellen kommen auf uns zu! Die Truppen der Union haben den Rückzug angetreten!«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, schrie der Arzt.
»Wenn Sie Ihre Hysterie nicht bezähmen können, sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen! Das ist ein Befehl, Mister! Gehen Sie mir aus dem Weg!«
Zitternd vor Angst und Scham ging Monk nach draußen. War er tatsächlich vor Hester in Panik geraten, die in diesem Inferno des Grauens so gelassen blieb?
Er musste sich beruhigen. Seine Beine
Weitere Kostenlose Bücher