In den Fesseln des Wikingers
vielleicht Ähnliches selbst erfahren? Rührte diese Narbe daher?
Die vordringende Dunkelheit ließ seine Züge rasch undeutlich werden, so dass sie sich wieder auf den Rücken drehte und in den schwarzen, sternlosen Himmel starrte. Der Sand knisterte leise, als regten sich darunter kleine Wesen, die von dem heranströmenden Meer neu belebt wurden. Ganz schwach war jetzt bereits die nahende Flut zu hören, das Wasser floss sanft und leise zum Land hinüber, spülte sich in kleinen Wellen immer dichter heran und würde bald den Strand einnehmen, bis auf einen schmalen Streifen Sand, dicht bei den Felsen. Rodena schloss die Augen und sehnte sich nach ihrer Mutter, die nun einsam im Quellheiligtum auf sie wartete und sich vor Sorge um die Tochter verzehrte. Wenn sie ihr nur eine Nachricht zukommen lassen könnte! Noch nie in ihrem Leben war sie von Kira getrennt gewesen, nun würde sie allein durchkommen müssen. Ach, Kira war keine Seherin, doch sie verstand es, tief in die Menschen hineinzuschauen. Vermutlich hätte sie ihr auch sagen können, welches Geheimnis das blasse, traurige Gesicht dieses Wikingers verriet.
Sie erwachte davon, dass jemand sie hart an der Schulter rüttelte. Als sie erschrocken auffuhr, sah sie Thore davongehen, er schien wenig Lust zu haben, ihr einen guten Morgen zu wünschen. Immerhin hatte er sie losgebunden, denn der Riemen hing lose von ihrem Handgelenk herab. Sie setzte sich auf, umschlang die angezogenen Knie mit den Armen und betrachtete die unherlaufenden Männer, die sich offensichtlich bereits darauf vorbereiteten, ihre Schiffe zu besteigen. Aufmerksam besah sie sich die berüchtigten Drachenboote aus der Nähe, und sie staunte darüber, wie schlank und schön diese Schiffe gebaut waren. In gleichmäßigen Reihen waren die Planken gesetzt, bogen sich zum Bug und Heck aufwärts, um im spitzen Winkel mit dem hohen Steven abzuschließen. Am Bug endete der Steven in dem geschnitzten Kopf eines Fabelwesens, das bei jedem der drei Boote ein anderes Aussehen hatte. Zwei Handbreit unter der Reling ragten die Ruder aus schmalen Schlitzen im Holz, jetzt waren sie so weit wie möglich nach innen gezogen, auch das Segel war gerefft. Man hatte die Drachenboote noch am Abend an Pflöcken vertäut, damit die Flut sie nicht ins Meer zog, und so warteten sie jetzt brav wie angebundene Windhunde darauf, dass ihre Herren sie wieder durch die Meereswellen hetzten.
Thore hatte sich unter die Männer gemischt und gab ihnen Anweisungen, die einen packten die mitgebrachten Lebensmittel zusammen und trugen sie zu den Booten, während die anderen bereits Hand anlegten, um die Drachenschiffe ins tiefere Wasser zu schieben und die viereckigen Segel zu setzen. Rodena hoffte schon, man würde sie vielleicht am Strand vergessen, doch sie täuschte sich.
Ein vierschrötiger Bursche in Pluderhosen und hohen Stiefeln näherte sich ihr, gab ihr ein Stück Stockfisch in die Hand und bückte sich dann, um die Decke, auf der sie saß, mit einem raschen Ruck unter ihr wegzuziehen. Sie schrie auf, fiel rücklings in den Sand und erntete ein breites, schadenfrohes Grinsen.
Einen sehr merkwürdigen Humor hatten diese Wikinger.
„Aufs Schiff!“, sagte der Mann und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. „Rasch. Du kannst dort essen!“
Sie hatte überhaupt keine Lust, dieses brettharte Zeug zu essen, doch es schien nichts anderes zu geben. Beklommen erhob sie sich, verschmähte die ausgestreckte Hand und ging zögerlich ein paar Schritte über den feuchten Sand. Die Boote schwammen längst weiter draußen auf den Wellen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gewand zu raffen und – gefolgt von dem vierschrötigen Wikinger – über dem weiten, flachen Strand zu einem der Schiffe hinüberzuwaten. Als sie dann ratlos vor der hoch über ihr aufragenden, schwankenden Reling stand, erblickte sie oben plötzlich Thores bärtiges Gesicht. Er grinste sie an und streckte ihr beide Arme entgegen – im gleichen Moment schrie sie erschrocken auf, denn der andere Bursche hatte sie um die Taille gefasst und hob sie ein Stück empor. Mit festem Griff packte Thore sie jetzt an den ausgestreckten Händen und beförderte sie schwungvoll an Bord des Schiffes. Rot vor Ärger stand sie vor ihm, zog ihr Gewand zurecht und rieb sich dann die schmerzenden Handgelenke.
„Ausgeschlafen?“, fragte er hämisch und schob sie an den Reihen der Ruderer vorbei zum Heck hinüber, wo er sie auf eine niedrige Bank drückte. Gleich
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