In den Fesseln des Wikingers
betrachten, doch ohne allzu viel Begeisterung zu zeigen, ja, er konnte sich nicht einmal zu einem Lächeln überwinden.
„Was will er mit dieser plumpen Kuh?“, flüsterte Papia ärgerlich. „Die würde ich nicht mal vor einen Wagen spannen, so hässlich ist sie!“
„Es ist Sigurds Schwester“, sagte Rodena leise. „Thore wird um sie freien und sie heiraten.“
„Was?“ Papia riss die Augen weit auf und musste rasch bei Ubbe nachfragen, ob diese Nachricht tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Ubbe zuckte die Schultern und behauptete düster, nichts Genaues zu wissen. Es sei Thores Sache, sich eine Braut zu suchen. „Wenn er Sigurds Schwester heiraten will, so wird er es tun. Aber keiner seiner Freunde wird ihm zu dieser Ehe Glück wünschen.“
„Ich auch nicht!“, fügte Papia empört hinzu. „Was für ein Dummkopf! Weshalb tut er das nur?“
Ubbe warf Rodena einen vorwurfsvollen Blick zu und wandte sich dann seinen Freunden zu, um mit ihnen Met zu trinken. Rodena war rot geworden – hatte Ubbe am Ende beobachtet, wie sie Thore ohrfeigte?
„Ich weiß ganz sicher, dass Thore dich liebt“, sagte Papia bekümmert. „Wie kann er nur so dumm sein!“
„Er ist zornig auf mich.“
„Na und? Deshalb muss er doch nicht gleich eine andere heiraten! Und dazu noch solch eine alte Vettel, der die Brüste über den Bauch hinunterhängen.“
„Vielleicht gefällt ihm das“, knurrte Rodena boshaft.
Papia übertrieb maßlos in ihrer Empörung, denn Gudrun war zwar stattlich, aber keinesfalls hässlich. Betroffen sah Rodena, wie die Wikingerfrau Thore anlächelte und sich dabei an ihre blonden Zöpfe fasste. Vermutlich hatte sie dichtes, goldblondes Haar, das sich weich um ihren Körper legte, wenn sie die Flechten offen trug. Rodena wandte die Augen ab – die Vorstellung, Thore könne mit dieser Frau aufs Lager steigen und sie liebkosen, wie er es in dieser Nacht mit ihr selbst getan hatte, war so quälend, dass sie glaubte, vor Verzweiflung sterben zu müssen.
Er will mir wehtun, dachte sie unglücklich. Er tut das nur, weil er mich zwingen will, seine Bedingungen anzunehmen. Aber ich werde ihm nicht nachlaufen – wenn er glaubt, mich eifersüchtig machen zu können, dann hat er sich geirrt.
Sie stand auf, denn sie spürte, dass sie jetzt allein sein musste. Langsam ging sie zwischen den schwatzenden und schmausenden Männergruppen hindurch, bis sie das Lager hinter sich gelassen hatte und einen schmalen Streifen leeren Strandes vor sich hatte. Das Meer war aufgewühlt, schaumgeränderte Wellen rollten gegen das Ufer, brachen sich mit einem schlagenden Geräusch im Sand. Über ihr segelten Möwen im Wind, schossen wie weiße Schatten dicht an den Felsen vorbei, und ihr Kreischen klang schrill und schmerzhaft in Rodenas Ohren.
Die Steilküste war hier niedriger, doch immer noch viel zu hoch, um sie zu ersteigen. Rodena spürte, wie die Beine unter ihr zitterten und eine wohlbekannte, schreckliche Leere in ihr aufstieg. Es war ihre Göttin, die sie rief, und sie hatte diesem Ruf zu folgen, ob sie wollte oder nicht.
Sie kauerte sich zwischen das Felsgeröll, und das Brüllen und Zischen der Brandung begleitete die Bilderflut, die unerbittlich an ihr vorüberzog. Sie sah den nackten, lockenden Körper der Wikingerfrau auf einem Lager unter dem Zeltdach, und Thore beugte sich über sie, berührte mit dem Finger ihre offenen Haarflechten. Da verzerrten sich die Züge der Frau, die Haut wurde wie braunes Leder, die Lippen wurden schmal, und in ihren Augen glomm die Lust der Morrigan. Dunkle Federn wuchsen überall an ihrem weißen Leib, die Göttin nahm Krähengestalt an, ihr Körper schrumpfte, ein Schnabel wuchs, die Arme wurden zu Schwingen, und sie erhob sich kreischend in die Lüfte. Rodena sah Thore taumeln, ein Messer blitzte auf, und er stürzte blutend auf das Lager. Über dem Strand flatterten Scharen schwarzer Vögel, und mitten unter ihnen war die grausame Göttin, die todbringende Kriegerin, die Morrigan.
Fieberschauer schüttelten Rodena, ihre Zähne schlugen aufeinander, und als die grausigen Bilder verblassten, wusste sie kaum, wo sie sich befand. Erschöpft löste sie die Hände von dem Felsbrocken, an den sie sich während der Visionen geklammert hatte, und sie betrachtete gleichgültig die blutigen Risse an ihren Fingern.
„Du wolltest dich wohl heimlich davonmachen, meine Schöne“, sagte eine Männerstimme hämisch.
Sie hob den Blick und erkannte den Wikinger Sigurd.
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