In den Fesseln des Wikingers
sein Schwert gezogen hatte und in der Linken das lange Schild trug. Das Schild war rechteckig – auf rotem Grund war ein dunkler Wolf gemalt.
Entsetzen durchfuhr sie. Vor ihren Augen tauchte das Traumbild auf, die beiden ineinander verbissenen Tiere, der Wolf und der Bär. War dies die Bedeutung?
Die Kämpfer waren inzwischen aufeinander zugestürmt, das Kriegsgeschrei war verebbt, stattdessen hörte man das Wiehern und Schnauben der Pferde, den Klang der Waffen, die aufeinander stießen, dazwischen drohende Rufe und die Schreie der Verwundeten. Ein dunkles Gewimmel von Männern und Pferden im weißlichen Nebel, stürzende Rösser, blitzende Schwerter, Spieße, Wurfbeile und das dumpfe Geräusch, wenn eine Waffe gegen ein hölzernes Schild prallte.
Wo war Thore? Sie versuchte, ihn in der Menge der kämpfenden Gestalten auszumachen, doch die sich aufbäumenden Pferde verdeckten die Männer, und sie konnte weder Thore noch irgendeinen anderen seiner Kämpfer erkennen.
Am ganzen Körper bebend stand sie da, dachte nicht an Flucht, sondern starrte nur auf das grausige Geschehen. Dann, plötzlich, spürte sie über sich eine Bewegung und sah hinauf. Aus dem kahlen Geäst eines Baumes lösten sich die schwarzen Vögel der Morrigan, die dort lautlos und unsichtbar gewartet hatten, als seien sie ein Teil des dürren Gezweigs. Jetzt schwärmten sie aus, kreisten mit gezackten, glänzenden Schwingen über den Köpfen der Kämpfer und suchten sich ihre Beute.
In diesem Augenblick hörte Rodena die Stimme ihrer Göttin, und ihr Ton duldete weder Ungehorsam noch Widerspruch.
Flieh!
Sie fasste die bleiche, zitternde Papia an der Hand und riss sie mit sich fort, zwängte sich zwischen Stämmen und kahlem Buschwerk hindurch, stolperte über Wurzeln und Gestein, stürzte und raffte sich wieder auf.
Flieh!
Sie hörte das Mädchen keuchen, spürte, wie ihr selbst der Atem ausgehen wollte und sah bereits die rettende Höhle vor sich, da knickte dicht neben ihr ächzend ein Stamm zur Seite und versperrte ihr den Weg. Sie hörte das Rauschen des Baches, sah sein Wasser in dunkelroten Wellen und Wirbeln davoneilen, und eine namenlose Angst erfasste sie.
Flieh!
Dieser Ort würde ihr keinen Schutz bieten! Sie versuchte, die widerstrebende Papia weiterzuziehen, doch das Mädchen war am Ende ihrer Kraft und ließ sich auf den Waldboden fallen.
„Wo willst du denn hin?“, keuchte sie. „Dort in der Höhle sollen wir uns verbergen, hat Thore gesagt.“
„Nein! Wir müssen weiter. Nun komm schon!“
„Ich will nicht. Ich kann nicht mehr!“
„Du kannst!“
Wütend zerrte sie Papia hoch, zwang sie, ihr quer durch den Wald zu folgen, ließ nicht locker, bis sie schließlich weit entfernt von dem dunklen Fels eine Anzahl moosbewachsener Stämme liegen sahen, die ein Sturm vor Jahren entwurzelt hatte. Erschöpft verkrochen sie sich zwischen die gestürzten Baumriesen, wühlten sich in das feuchte Laub ein und lagen mit wild hämmernden Herzen, ohne zu wissen, wo sie sich befanden, noch weshalb sie gerade hier Zuflucht gesucht hatten.
Eine ungeheure Müdigkeit befiel sie, und beide versanken für eine Weile in tiefe Erschöpfung. Doch schon bald spürten sie die kühle Feuchtigkeit des herbstlichen Waldes, und Papia begann zu jammern.
„So eine Verrücktheit. In der Höhle säßen wir jetzt im Trockenen und hätten sogar etwas zu essen. Wir könnten ein Feuer anzünden und uns daran wärmen ...“
„Damit Wilhelms Krieger den Rauch riechen und uns finden?“
„Was wollen sie mit uns? Sie haben genug mit den Wikingern zu tun.“
„Wer weiß“, sagte Rodena beklommen. „Vielleicht ziehen sich die Kämpfe in den Wald.“
„Vielleicht laufen die Normannen ja auch übers Meer“, knurrte Papia „Ich bleibe keinen Augenblick mehr hier in diesem widerlichen, nassen Laub. Eben hat irgendwas in meinen Fuß gebissen ...“
„Psst! Hast du nicht gehört?“
In der Ferne waren Stimmen zu hören, ein Pferd wieherte, Hufe stießen gegen harte Baumwurzeln.
„Das können nur die Normannen sein – Thores Männer haben keine Pferde“, zischte Rodena.
„Oh Gott, was tun wir jetzt?“
„Flach hinlegen!“
Sie drückte Papia an den Boden und deckte eine Schicht Laub über sie, dann grub sie sich selbst ein. Reglos lagen die beiden, wagten kaum zu atmen und lauschten. Das stumpfe Geräusch von Hufen auf dem feuchten Waldboden kam näher, Reiter schritten dicht an ihnen vorüber, ein Pferd schnaubte unwillig, sein Reiter
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