In den Klauen des Bösen
verrückt. Vielleicht bin ich immer verrückt gewesen. Vielleicht werde ich’s für immer bleiben!«
»Kelly«, begann ihr Vater, »so habe ich das nicht gemeint...«, doch Kelly stieß die Wagentür auf und sprang hinaus.
»Warum habt ihr mich in der einen Nacht nicht sterben lassen?« forderte sie ihn heraus. »Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wie ich bin? Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wie die Leute von mir reden? Wie sie mich anstarren? Hier ist es dasselbe wie in Atlanta. Es ist immer dasselbe. Warum hast du mich bloß nicht sterben lassen?«
Sie knallte die Tür zu und rannte vom Wagen fort. Sie stolperte über ein Feld voller Ranken auf einen Kanal zu.
Ted war von ihren Worten zunächst wie betäubt. Er musste sich erst einmal fassen. Er öffnete die Tür neben dem Fahrersitz, sprang nach draußen und lief hinter ihr her.
»Kelly!« rief er. »Kelly! Komm zurück!«
Er erreichte die Mitte des Feldes und suchte nach einem Zeichen von ihr. Zunächst sah er nichts, dann in der Nähe des Kanals - eine Bewegung. Er rannte von neuem los und rief unentwegt ihren Namen.
Am Weg, der am Kanal entlang führte, blieb er keuchend stehen.
Und dann konnte er sie fünfzig Meter weiter erkennen.
Sie stand vor einer Fußgängerbrücke über den Kanal. Auf der anderen Seite begann die Wildnis.
»Kelly! Kelly, warte doch! Ich wollte nicht...« Als er die Brücke erreichte, war sie verschwunden.
Er sah nur noch die pechschwarze Finsternis des Moores auf der anderen Seite.
Zorn und Wut waren längst verflogen. Die Angst saß ihm wie ein Klumpen in der Brust. »Kelly?« rief er noch einmal. »Kelly, wo bist du?«
Er horchte. Er betete im stillen, dass sie Antwort geben würde, doch er hörte nur das monotone Gequake der Frösche, das Brummen der Insekten und den Schrei einer Eule.
Kelly war im Dunkel untergetaucht.
16
Erschüttert hörte Mary sich Teds Erklärungen an. Dabei klammerte sich ihre Hand instinktiv an den Aufschlag des Morgenmantels. Es lief ihr kalt den Rücken herunter. »Warum?« wollte sie von ihrem Mann wissen. Ihre Stimme klang hohl. »Hättest du nicht wenigstens warten können, bis ihr zu Hause wart?«
Carl erhob sich aus dem Sessel und ging zum Telefon. Marys Panik wuchs. »Kitteridge? Carl Andersen hier. Wir haben ein Problem. Meine Enkelin ist im Moor verschwunden.« Schweigen. Dann: »Verdammt, es ist völlig egal, warum sie im Moor verschwunden ist, Kitteridge. Es kommt nur drauf an, dass wir sie finden, bevor... Nein, ich weiß nicht, wo sie ins Moor gegangen ist. Aber mein Sohn weiß es... Sie hatten Streit... In Ordnung, wir warten auf Sie. Und schaffen Sie Judd Duval herbei - der kennt sich am besten im Moor aus.«
Er legte auf. »Ich rufe jeden an, der mir einfällt«, machte er Ted klar. »Wenn wir Glück haben, ist sie nicht weit gekommen und wir finden sie bald.« Und während Ted und Mary angesichts des Geschehens völlig hilflos und niedergeschlagen dasaßen, brachte Carl einen Suchtrupp auf die Beine. Als er eine Viertelstunde später die Polizei ins Haus ließ, begann das Telefon zu läuten. Mary, die den Apparat im ersten Moment ausdruckslos angestiert hatte, spürte eine Welle der Hoffnung. »Es ist Kelly!« rief sie plötzlich. Sie stürzte durchs Zimmer, um nach dem Hörer zu greifen. »Kelly? Kelly, bist du’s?«
Nach einer Sekunde des Schweigens meldete sich Barbara Sheffield. »Mary, ich habe es soeben gehört. Craig hat von der Polizeistation aus angerufen. Kann ich helfen?«
Mary war, als ob sie den Boden unter den Füßen verlöre. »Ich... weiß nicht. Der Polizeichef ist gerade gekommen...«
»Craig ist zu mir unterwegs«, sagte Barbara. »Wir fahren dann gleich zu Ihnen.«
»Das ist doch nicht nötig...« protestierte Mary aus Gewohnheit, doch Barbara ließ sie nicht aussprechen.
»Nun seien Sie nicht albern, Mary. Ich werde Sie doch in dieser Situation dort nicht allein lassen. Sie müssten ja durchdrehen. Und machen Sie sich keine Sorgen. Judd Duval kennt das Moor wie seine Westentasche. In ein oder zwei Stunden ist Kelly bestimmt wieder da.«
»Wirklich? Aber was ist, wenn Kelly«, Mary wusste gar nicht mehr, was sie sagte, »gar nicht gefunden werden will? Wenn...«
»Aufhören, Mary!« befahl Barbara. »So etwas dürfen Sie nicht einmal denken. Ich komme so schnell wie möglich.«
Mary legte auf. Sie bemerkte den forschenden Blick von Tim Kitteridge, als sie sich umdrehte.
»Mrs. Andersen? Was haben Sie damit sagen wollen?«
Mary
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