In den Klauen des Löwen
Blei. Das Gewehr an die Wange reißen, zielen, abdrücken … man will es, aber die Arme hängen herunter, vor den Augen flimmert die Luft. Nicht einmal die Kraft ist mehr da zu schreien, wenn das Ende auf einen zukommt.
Mike Harris setzte sich auf die Decke und starrte in die beginnende Nacht. Er nahm das Gewehr zwischen seine Knie und umklammerte es.
Wohin, dachte er.
Zurück zur Farm? Es waren sechs Tage Fußmarsch.
Zu den Mondbergen? Es konnten sechs Wochen werden.
Oder in eine ganz andere Richtung? Nach Osten, zu den Truppen der Regierung? Irgendwo mußte man auf sie treffen; sie durchkämmten das Land nach den Stoßtrupps der Bwambas, die noch immer Weiße einsammelten und als Geiseln zu den immer noch geheimen Sammelstellen brachten.
Harris verbrachte die Nacht damit, sich an ein kleines Lagerfeuer zu hocken und es immer wieder am Brennen zu halten. So wehrte er die Tiere ab, die ihn umschlichen. Er hörte und sah sie nicht, aber er spürte sie in der Dunkelheit jenseits seines Feuers. Vor allem, als das Heulen der Hyänen näher und näher kam, wußte er, daß um ihn herum eine Raubkatze schlich und ihn beobachtete.
Harris saß still, das Gewehr auf den Knien, bereit, sofort zu schießen. Als im Osten der Nachthimmel fahl und streifig wurde, atmete er auf, zertrat das Feuer und lief ein paarmal rund um den Aschenhaufen, um seine lahmen Muskeln in Bewegung zu bringen.
Der neue Tag. Ein Tag, der für ihn unendlich lang werden würde. Ein Tag, den er verfluchen würde, noch ehe er zu Ende ging. Ein Tag, der Harris' Körper verändern würde wie ein ganzes Jahr.
Er wußte es, knotete die Decke zusammen, legte den Wasserkanister und die Büchsen hinein, warf den improvisierten Sack über die Schulter, sicherte sein Gewehr und benutzte es als Stock. So zog er los, der an den Himmel kletternden Sonne entgegen.
Er hatte keine andere Wahl. Er wurde zu einem Käfer in der Steppe.
»Wir ruhen uns noch diesen Tag aus«, sagte Malanga, als sie alle gefrühstückt hatten und Thorwaldsen sich seine Pfeife ansteckte. Corinna hatten sie aus dem Zelt getragen und wieder unter das Sonnensegel gelegt. Sie sah besser aus als am vergangenen Tag, aber das Fieber war noch nicht völlig aus ihrem Körper getrieben. Die Augen glänzten noch unnatürlich, das operierte Bein schmerzte. Malanga wollte nach dem Frühstück den Verband wechseln.
»Es geht mir wundervoll«, sagte Corinna, als sie Tee getrunken und Kekse gegessen hatte. »Man merkt, daß jetzt Männerblut in meinen Adern rollt. Ich fühle mich stark wie nie zuvor …«
Thorwaldsen lachte laut. Er holte eine zweite Pfeife aus seiner Hosentasche und hielt sie Corinna hin. »Bitte, bedienen Sie sich! Mit meinem Blut im Körper müßten Sie daran Geschmack finden.«
Malanga schien andere Gedanken zu haben, als den Morgen mit Scherzen zu verbringen. Er ging unruhig in dem kleinen Camp herum, sah oft in die Ferne und winkte dann Thorwaldsen zu sich an den Landrover.
»Wir müssen uns tarnen«, sagte er leise, damit es Corinna nicht hörte, »wenn wir hierbleiben wollen.«
»Tarnen? Warum?« Thorwaldsen schüttelte den Kopf. »Wenn man uns entdeckt, um so besser für Corinna.«
»Es könnte Komplikationen geben. Ich möchte sie in unser aller Interesse vermeiden.« Die Stimme Malangas hatte sich verändert. Sie klang hart, befehlend. Auch sein Gesicht verlor die Weichheit; es war verschlossen und wie vereist.
»Sie haben Angst, nicht wahr?« sagte Thorwaldsen hämisch. »Irgend etwas ahnte ich doch. Mit Ihnen stimmt etwas nicht! Gut, Sie sind ein Arzt, aber weiß der Teufel, welche Funktionen Sie jetzt hier ausüben. Sie fürchten einen Zusammenstoß mit den Regierungstruppen.«
»Ja«, antwortete Malanga kurz.
»Und warum?«
»Ich könnte es Ihnen erklären, aber ich will nicht.«
»Oha! Jetzt wird's gemischt!« Thorwaldsen klopfte seine Pfeife am Stiefelabsatz aus und nahm sie dann in die Hand wie eine Pistole. Mit dem Mundstück tippte er Malanga an die Brust. »Der Aufstand der Bwambas und Sie … da ist ein Zusammenhang, was? Sie sind doch ein Bwamba?«
»Natürlich.«
»So natürlich finde ich das gar nicht. Ihr Stamm zieht brennend und mordend durchs Land, bringt die Eltern und Geschwister von Corinna um, und Sie schnappen sich die einzige Überlebende der Familie und wollen mit ihr in die Mondberge! Hören Sie mal …« Thorwaldsen sah hinüber zu Corinna, die auf der Decke lag, geschützt durch das Sonnensegel, und hinaus in die Steppe blickte.
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