In der Falle - Leino, M: In der Falle
würde sich erholen und weiterleben. Alles andere war zweitrangig. Er warf seiner Frau eine Kusshand zu und verließ das Zimmer so leise, wie er es betreten hatte.
»Es wird schon wieder«, sagte Marketta. Sie gab ihm einen Klaps auf den Handrücken und ließ die Hand dort liegen.
Er unterdrückte den Reflex, sich ihr zu entziehen, aber er konnte nicht verhindern, dass seine Finger sich zur Faust schlossen. Er war wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzog, wenn sie sich bedroht fühlte. Wobei es für seinen Schutzreflex nicht einmal eine Bedrohung brauchte.
»Warum hat sie das getan? Wie viele von den Pillen hat sie eigentlich genommen?«
»Ich weiß es nicht, zu viele jedenfalls«, antwortete seine Schwiegermutter.
»Scheiße, sie hätte sterben können!«
»Leise!«, versuchte Marketta ihn zu beruhigen. »Liina schläft.«
Jetzt zog er doch die Hand zurück und legte sie in den Schoß. Er hielt die Berührung nicht aus.
Auf der anderen Seite des Wohnzimmers tickte die Standuhr. Viitasalo spürte, wie müde er war. Es war nach zwei Uhr morgens, und er hatte schon Schlafschulden von der Nacht zuvor. Durch die offene Tür sah er, dass Markettas Küchenfenster undicht war: Der leuchtende goldene Weihnachtsstern, den sie auf der Innenseite aufgehängt hatte, schaukelte sachte hin und her. Die Bewegung hatte eine hypnotische, lähmende Wirkung. Marketta rührte mit dem Löffel in ihrem Kaffee. Viitasalo hatte seinen kaum angerührt, er schmeckte bitter. Viitasalo zwang sich, den Blick von dem leuchtenden Weihnachtsstern abzuwenden. Marketta sah ihn über den Wohnzimmertisch hinweg an.
»Körperlich wird sie sich in ein paar Tagen erholt haben, aber mental wird sie eine längere Zeit brauchen«, sagte sie. »Bevor du gekommen bist, hatte ich Zeit, ein paar Worte mit dem diensthabenden Arzt zu sprechen. Vielleicht redest du morgen mit dem, der für ihre Behandlung zuständig ist.«
Viitasalo nickte, zu etwas anderem war er nicht in der Lage.
»Hast du denn gar nichts bemerkt?«
»An Sari? Sie war deprimiert, dass sie den Job verloren hat, und hat sich allen möglichen Unfug eingebildet, aber … aber mit so was hab ich nicht gerechnet. Im November hab ich ihr gesagt, dass sie zur psychologischen Beratung gehen soll, überhaupt, dass sie sich helfen lassen soll, aber …« Plötzlich spürte er die Schuldgefühle wie Blei auf den Schultern. »Sie hat sich damals ja auch von der kleinen Depression wegen Liina erholt.«
»Ich muss dich das fragen, Juha: Hast du Sari gedroht?«
Viitasalo sagte nichts, er starrte seine Schwiegermutter nur an und seufzte.
»Ich hab’s mir gedacht«, sagte Marketta.
»Danke.«
»Und da ist auch keine andere Frau, oder?«
»Da war noch nie eine außer ihr«, sagte Viitasalo. »Hat sie dir so was erzählt?«
»Im Oktober.«
»Im Oktober schon? Da hat sie sogar noch gearbeitet. – Warum hast du mich nicht angerufen?«
»Sari ist meine Tochter. Ich hatte meine Zweifel, aber ich war mir eben nicht sicher.«
»Nicht sicher, was mich betrifft, oder wegen Sari?«
»Beides. Stell dir vor, es wäre was dran gewesen an dem, was sie erzählt hat, dann … Ich konnte dir nichts sagen, das musst du verstehen.«
Viitasalo starrte auf seine Hände.
»Sari braucht jetzt viel Zeit und vor allem Hilfe«, sagte Marketta leise.
Viitasalo nickte und hörte im selben Augenblick die Wohnungstür. Der Luftzug aus dem Treppenhaus ließ den Weihnachtsstern heftiger schaukeln, ruckartiger, als hätte ihn jemand mit Gewalt in Bewegung gesetzt. In Viitasalos Augen war es überhaupt kein Weihnachtsstern mehr, sondern ein Mann an einem Strick, unter dem sich gerade krachend die Falltür geöffnet hatte.
»Hier, die Schlüssel«, sagte eine weiche Stimme hinter seinem Rücken.
Es war Mauri, der grau melierte Nachbar, der mit dem Taxi zum Flughafen gefahren war, um das Auto abzuholen, dass Viitasalo dort im Parkhaus zurückgelassen hatte. Jetzt stand er lächelnd in Markettas Wohnzimmer und klimperte mit Viitasalos Schlüsseln. Viitasalo hatte seine Schwiegermutter nicht nach ihrem Verhältnis zu dem hilfreichen Nachbarn fragen mögen, aber er spürte, dass die Wand zwischen ihren Wohnungen nicht viel zu bedeuten hatte. Er wusste nicht, ob er sich für Marketta freuen oder ob er sauer sein sollte, dass sie so schnell über Kaarlos Tod hinweggekommen war. Vielleicht hatte er mehr Grund, sauer auf sich selbst zu sein. Hatte er nicht einfach nur Glück gehabt, dass Sari noch am
Weitere Kostenlose Bücher