In der Falle - Leino, M: In der Falle
Leben war? – Am besten, er dachte gar nichts mehr, sonst wurde er noch wahnsinnig. Außerdem musste er sich um Liina kümmern, die dabei gewesen war, als ihre Mutter Tabletten genommen hatte.
Marketta hatte erzählt, dass Liina ihr die Tür aufgemacht hatte, bevor sie auch nur dazu gekommen war, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Das Mädchen hatte sie ermahnt, leise zu sein, damit sie Mama nicht weckte. Liina selbst hatte einen drahtlosen Kopfhörer aufgehabt: Sie hatte sich Zeichentrickfilme angeschaut, während Mama schlief. Ihre Tochter hatte Marketta im Schlafzimmer gefunden. Sari hatte in Kleidern und mit vor der Brust gefalteten Händen auf dem Rücken gelegen. Das Handy lag, auf lautlos gestellt, neben ihr. Marketta hatte es, während sie mit ihrem eigenen Handy den Krankenwagen rief, in die Hand genommen und aufs Display geschaut: Es gab 24 nicht angenommene Gespräche. Irgendwie war es, so hatte sie ihm erzählt, als hätte sie das letzte Türchen am Adventskalender aufgemacht.
Viitasalo trug die schläfrige Liina und Teddy Pontus, den sie mitgenommen hatte, direkt ins Kinderzimmer. Er hatte noch die nassen Schuhe und den Mantel an. Das Haus war still und wirkte auf ihn, als hätte jemand alles Leben herausgesaugt und nur ein Vakuum übrig gelassen, eine leere Hülle, die Illusion von einem Heim. Viitasalo hätte am liebsten nichts angefasst aus Angst, eine Berührung könne die Stille bersten und sich in einem infernalischen Schrei entladen lassen. Er hatte Angst, dass er den Schrei nicht aushalten würde. Dann wäre Liina allein.
Viitasalo zog Liina aus und half ihr in das Nachthemd mit den Clowns, das sie so gern mochte.
»Ihr dürft ohne Zähneputzen schlafen gehen«, sagte Viitasalo. »Aber nur dieses eine Mal.«
»Wo ist Mama hingegangen?«
»Mama macht eine kleine Reise«, antwortete Viitasalo und hatte nicht einmal das Gefühl zu lügen.
»Warum ist Mama traurig?«
»Mama ist nur ein bisschen müde.«
»Hat Mama uns nicht mehr gern?«
»Doch, natürlich hat sie das.« Viitasalo spürte ein Ziehen im Magen. »Also gute Nacht, ihr beiden!«
Viitasalo deckte Liina und Teddy Pontus zu und wollte gehen.
»Papa?«
»Was?«
»Lass das Licht an!«
»Warum?«
»Ich will nicht, dass das Ungeheuer wiederkommt.«
»Welches Ungeheuer?«
»Es flüstert schreckliche Geschichten.«
»Was für Geschichten?«
»Solche, dass ich und Teddy Pontus Angst kriegen.«
»Liina, Ungeheuer gibt’s doch gar nicht.«
»Doch! Letzte Nacht war’s auch wieder da.«
Als Liina zu weinen anfing, setzte sich Viitasalo auf die Bettkante. Liina war so klein und zerbrechlich. Sie glich Sari schon so sehr, dass Viitasalo Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. Er strich dem Mädchen über die Haare. Auch die hatte Liina von ihrer Mutter.
»Du und Teddy Pontus, ihr hattet doch auch früher keine Angst vor irgendwelchen Ungeheuern«, sagte er, so zärtlich er nur konnte. Liina sah ihn an, und ihre Augen waren Tränenteiche. »Du hast nur schlecht geträumt. Ungeheuer gibt’s nicht wirklich. Sie sind nur hier«, fuhr er fort und klopfte mit dem Zeigefinger erst gegen die eigene Schläfe und dann gegen die seiner Tochter. »Man braucht nur an was Nettes zu denken, dann lassen sie einen in Ruhe. Ich lass das Licht trotzdem an, aber nicht vergessen: Sie sind nur hier.« Er klopfte noch einmal gegen ihrer beider Schläfen, dann stand er auf und wollte aus dem Zimmer.
Er war schon an der Tür, als er hörte, wie Liina sich im Bett aufsetzte.
»Was ist?«
»Machst du’s auch so?«
»Was?«
»Dass du an was Nettes denkst, wenn die Ungeheuer von hier kommen?« Liina klopfte sich mit der offenen Hand sachte gegen die Stirn.
»Ja. Na klar.«
»Und wirkt es immer?«
»Ja. Jedes Mal.«
Viitasalo lächelte und ging aus dem Zimmer. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, lehnte er sich mit der Stirn dagegen und schloss die Augen.
»Es wirkt nicht«, flüsterte er beinahe lautlos. »Es wirkt nie.«
Die leere Diazepam-Dose stand noch auf dem Küchentisch. Neben der Dose lag Antoine de Saint-Exupérys Buch, das Sari selbst zum fünften Geburtstag bekommen hatte und aus dem sie Liina vorlas, seit sie auf der Welt war. Viitasalo hatte sie oft ganze Passagen im Chor aufsagen hören. Liina kannte wahrscheinlich die halbe Geschichte auswendig. Das Buch und der Einband waren vergilbt und fleckig, ein paar lose gewordene Seiten waren mit Tesa eingeklebt. Viitasalo wusste, was auf der Titelseite stand, aber
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