In der Hitze der Stadt
waren ihm unverständlich. Er lebte inmitten der Stadt, sah nicht selten in Abgründe der menschlichen Seele. Hätte er hingegen vom klimatisierten Edelbüro aus über die Nöte und Ängste der Leute philosophieren wollen, hätte er bei der NZZ angeheuert. Doch Danner hatte seine Ausbildung ganz bewusst bei der Ringier-Journalistenschule absolviert. Ihn interessierten an einer Geschichte immer die Einzelschicksale. Er war überzeugt, dass es diese persönlichen Schicksale waren, an denen man die Verwerfungen in einer Gesellschaft erkennen konnte. Warum kommt jemand in die Schweiz, profitiert von den Errungenschaften der Moderne, aber zwingt dann seine Frau unter einen schwarzen Sack? Warum erschlägt jemand seine eigene hoffnungsvolle, intelligente, vife und hübsche Tochter hinterrücks mit einer Axt? Warum ruft jemand einem ihm völlig Unbekannten »Dreckschweizer« zu und schlitzt ihm die Kehle auf? Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Warum tun sie so etwas? Warum tun sie sich selbst so etwas an?
Rolf Danner wollte Licht in diese Mina-Geschichte bringen. Er musste daher alles über die Familie und ihr Leben wissen. Er wandte sich an Frau Milutinovic. »Erzählen Sie mir von Clara, bitte. Kennen Sie sie gut?«
»Nun, was soll ich sagen? Wir uns schon lange kennen. Ich habe an eine Abend jede Woche bei Clara geputzt, als sie hier eingezogen ist. Und sie hat aufgepasst auf Tanja, wenn sie konnte. Ich habe serviert manchmal an Wochenende, wissen Sie.« Kaum hatte sie das gesagt, errötete sie stark, schaute sogleich verängstigt.
»Schon gut«, beschwichtigte Danner die Frau rasch. »Wie ging es weiter?«
Die Serbin nahm einen Schluck Kaffee, während sich das Mädchen vom Stuhl erhob und sich in einen Sofasessel fallen ließ, die Beine über die Lehne legte und mit den Haaren zu spielen begann.
Die Migrantin stellte die Tasse ab und fuhr fort: »Weil Clara mochte unsere kleine Tanja, bekam sie selbst Wunsch ein Kind zu haben. Dann es ging sehr schnell. Eines Tages sie uns stellt Erin vor.« Sie schürzte den Mund.
»Es war also keine Liebesheirat?«
»Pah! Liebesheirat? Clara wollte nur ein Kind.« Dann präzisierte die Serbin: »Also, verliebt war Clara zu Beginn, ganz bestimmt. Aber richtig geliebt hat sie den Musliman nie. Sie wollte Kind, egal von wem.«
»Und Mina? Wie war sie so?«, wandte Danner sich an Tanja.
Die zuckte mit den Schultern, wickelte eine Haarsträhne um ihre Finger, antwortete schließlich gelangweilt: »Mina war ganz normal.«
»Aha«, lächelte Danner und schaute wieder Tanjas Mutter an.
Die öffnete die Hände: »Kinder sind alle gleich. Wollen Spaß, rennen rum, wollen die neuesten Spielsachen, später teure Kleider. Muss man immer für sie da sein. Kinder halt. Ja, ja.« Sie lächelte und hob ihre Nase zu ihrer Tochter.
Die bemerkte, wie ihre Mutter sie neckte, und schnalzte verächtlich. Sie stand rasch auf und setzte sich mit schrägem Kopf und den Fingern im Haar an den Tisch.
Die Jugend von heute, dachte Danner und merkte, dass ihm ein paar Schweißtropfen von den Achselhöhlen herunterliefen. Das könnte noch lange dauern hier. Eine kühle Dusche, die hätte er jetzt gebrauchen können. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Durfte das Mädchen schwimmen gehen?«, fragte er.
»Schwimmen? Ja, aber nur mit Mutter«, antwortete Frau Milutinovic und zupfte den verschwitzten Träger ihres Kleides locker. »Daher gab es auch Streit am Freitag«, erklärte sie. »Clara hatte Mina ihren neuen Bikini eingepackt. Mina wollte ihn unbedingt mitnehmen. Aber Erin kontrolliert ihre Tasche, entdeckt Bikini. Er ihn zerfetzt. Wirft ihn Clara vor Füße.« Die Serbin schüttelte den Kopf. »Ich habe Geschrei gehört, sah Erin toben im Treppenhaus. Er riss Emine fort. Nur Clara noch saß da. Hat geheult wie nie zuvor.«
Zerfetzter Bikini, dachte Danner und rieb sich sein Kinn, während er überlegte, ob dieser Aufhänger für seine Story genug Saft hatte.
»Clara war ganz erschüttert«, fuhr die ältere Migrantin fort. »Saß sie auf einer Stufe, hatte beide Arme aufgestützt, die Hände an den Schläfen.« Dann fügte sie noch etwas an, was Danner aufhorchen ließ. »Clara hat immerzu gemurmelt: Ich mach ihn fertig. Ich bring diesen Sauhund ins Gefängnis.«
*
Die eiserne Tür der Zelle Nummer 8 des Basler Untersuchungsgefängnisses Waaghof schlug zu. Der Schlüssel wurde eingesteckt und das Schloss rasselnd umgedreht. Hans Steiner war eingeschlossen.
Nun war es also wieder
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